Inhalte sind beliebig. Wer heute in Diskussionen das Wort ergreift, hat es mit einem unsichtbaren neuen Freund oder Gegner zu tun – dem Hegemon. Den Bedeutungsgehalt des Wortes können wir von der Hegemonie – Vorherrschaft, Überlegenheit und Vormachtstellung – ableiten. Aber wir müssen ihn unscharf lassen, wie die anderen häufigen Begriffe. Die „Staatsräson“, „die Menschen“ oder „die Zukunft“; „Gerechtigkeit“, „Freiheit“, „Solidarität“, „Gemeinwohl“, „Sicherheit“, „Nachhaltigkeit“, „Fleiß“, „Vertrauen“, „Zusammenhalt“. Je nach Kalenderwoche „Stadtbild“, „Totalverweigerer“, „Reform“.
Niemand kann sagen, wovon da eigentlich geredet wird. Warum wird aber so viel diskutiert? Weil es um viel geht. Auf die Einsicht, dass sich das Gegenüber – und man sich selbst – nicht mehr mit Argumenten überzeugen lasse, folgte nicht das Ende der Diskussionen, sondern ein neuer Beginn. Nun sucht man den Hegemon. Wer ist das? Es ist der Mann, der bei Abendveranstaltungen in Reihe 5 sitzt, die Omi die sonntags ARD-Presseclub schaut, der Teenager, der seinen ersten Politikpodcast abonniert. Also wer genau? Der Hegemon ist der jedermann. Gerade nicht zu wissen, wer er genau ist, ist seine entscheidende Eigenschaft. Vom Hegemon ist nur bekannt: Es gibt ihn. Er macht bei Wahlen den Unterschied. Er ist der große Bestimmer. Er verteilt Rechtfertigungspflichten. Er redet aber nie mit, er wird nur adressiert. Er ist der Schweigsame in Elisabeth Noelle-Neumanns Schweigespirale, der gesunde Menschenverstand, auf den man sich beruft. Er ist der, an den man ständig erinnert.
Ich habe ganz am Ende von Redaktionsschluss auch über ihn geschrieben. Die letzten Worte meines Buchs zum Medienwandel:
„In der reichhaltigen, vielfältigen und alltäglichen Kommunikation, in der wir uns verfangen haben, geriet ausgerechnet derjenige aus unserem Blick, mit dem wir uns am dringlichsten über die Welt verständigen müssen. Mit dem Unbekannten, von dem wir nicht mehr wissen, in welcher Welt er lebt, weil es in unserer Zeitung nicht mehr steht.“
Redaktionsschluss
Das Buch erschien im März 2016. Im Juni war dann das Brexit-Votum und im November die erste Wahl von Donald Trump. Charlie Brooker, viel beschäftigter Fernsehmann, schrieb damals schon seine Stories für Black Mirror und hatte noch Zeit für Jahresrückblicke in der BBC. Aus dem für 2016 stammt einer meiner Lieblingsfernsehmomente:
Er rief bei der Hotline an, weil etwas mit seinem Fernseher nicht stimmte. Nigel Farage verkündete seinen Sieg für die „vernünftigen, anständigen Leute“. Brooker erkannte die Wirklichkeit nicht wieder, obwohl er da nachschaute, wo er sie vermutete.
Fernsehzuschauer und Zeitungsleser waren sich immer einander unbekannt. Ihnen war nur klar, dass es die anderen gibt und dass sie dieselbe F.A.Z. oder Süddeutsche lasen und dasselbe heute-journal sahen. Allein der wenigen Alternativen wegen. Man konnte sich, ohne darüber Gedanken machen zu müssen, auf Mythen stützen. Niklas Luhmann schrieb in seinem Buch zum Vertrauen über diesen ständigen Bedarf. „Wo die Vermittlung und Deutung einer Weltordnung nötig war, nahm sie den Weg über die Autorität von Göttern, Heiligen oder wissenden Interpreten, denen wie eine Person vertraut wurde.“
Die Zeit der Götter und Heiligen ging zuerst vorüber. Die „wissenden Interpreten“ durften noch kurz bleiben, als Professoren, Journalisten, Ärzte, Anwälte und Minister. Mehr oder weniger schicksalshafte körpernahe Dienstleistungen mittels gesprochener und geschriebener Worte, die eine gemeinsam geteilte Hintergrundrealität garantierten. Sätze wie „Sie haben eine Grippe“, „1 +1 = 2“ oder „das steht ab morgen im Amtsblatt“ standen für sich. Die Mythen gingen mit der Mode, in Form von unverständlicher, aber vertrauensvoller Medizin, Mathematik oder Ministerien.
Nicht nur in Amerika geht es diesen Leistungsrollen an den Kragen. Wozu Professoren und Journalisten, wir haben doch Internet. Wozu Ärzte und Anwälte, wir haben doch künstliche Intelligenz. Auf Politiker hat fast niemand mehr Lust.
Die neuen Debatten sind jetzt für alle da. In Voraussicht hat Slavoj Žižek schon 2012 über die neuen Diskurse und insbesondere die neuen Diskutanten geschrieben. Er eröffnete seinen tausendseitigen Hegelextremismus „Weniger als Nichts“ mit diesen Worten:
Es gibt zwei entgegengesetzte Arten von Dummheit. Die erste liegt vor, wenn ein gelegentlich hyperintelligentes Subjekt es einfach nicht kapiert, wenn es also eine Situation zwar logisch begreift, aber deren versteckte, kontextuelle Regeln nicht erfasst. Als ich beispielsweise zum ersten Mal in New York war, fragte mich der Kellner in einem Café, wie war Ihr Tag? Ich antwortete wahrheitsgemäß, ich bin todmüde, habe ein Jetlag, bin völlig gestresst. Und er schaute mich an, als wäre ich ein Vollidiot. Und er hatte recht, diese Art von Dummheit ist exakt die eines Idioten.
(…) Die zweite, entgegengesetzte Art von Dummheit wollen wir hier als Debilität bezeichnen. Debil ist demnach jemand, der sich vollkommen mit dem gesunden Menschenverstand identifiziert und ganz für den großen Anderen des äußeren Scheins steht.
Slavoj Žižek: Weniger als Nichts
Ist man überzeugt von der Sache, ist man der Idiot. Hängt man sein Fähnchen in den Wind, ist man debil. Fehlt noch eine Bezeichnung für diejenigen, die glauben, sie könnten diese Unterscheidung überlisten. Jens Jessen unternahm kürzlich den Versuch. In der Zeit eröffnete er einen Diskurs über den Rechtsruck mit einer Abhandlung über die Linken. Über wen? Im Radio wurde er gefragt, wer die „linken Diskurswächter“ sind, von denen er schrieb. Er sagte:
Also zunächst mal habe ich das nicht konstruiert, sondern ich gebe eine Wahrnehmung wider. Nun können Sie sagen, die lässt sich empirisch nicht untermauern, aber ich denke, sie ist doch vorhanden. Und das ist kein Phantasma. Also das fände ich jetzt eine ungewöhnlich träge und denkfaule Meinung, dass man alles, was sich nicht wirklich erhärten lässt, auch nicht in den Köpfen der Leute rumspukt.
Jens Jessen im SWR Kultur Forum
Er schrieb über ein Hirngespinst, das in den Köpfen der Leute herumspuke. Eine Wahrnehmung, die sich nicht erhärten ließe. Auf Nachfrage versuchte er es zu konkretisieren. Wer ist diese schulbeladene Linke?
Natürlich kann man sagen, ja, das sind alles unterschiedliche Gruppen, die ihre unterschiedliche Agenda haben.
Die Auflösung des Paradoxes von Einheit in Vielfalt, das seiner Zeitung den Aufmacher eines etliche Ausgaben übergreifenden Dossier wert war, gelang ihm nicht. Er versuchte es mit Argumentation über Bande:
Also wenn man den Eindruck hätte, es würde da viel mehr gestritten und gezankt jetzt im weitesten Sinne in den linken politischen Zusammenhängen, dann würde meiner Meinung nach die Lage schon ganz anders und viel besser aussehen.
Die Linken sind die, die die Rechten wecken, indem sie untereinander zu viel dulden. Man erkennt sie also an ihren Unterlassungen. Das ist Jessens Erklärung für den Rechtsruck. Eine andere, einfachere Erklärung, dass Wähler der AfD schlicht ein programmatisches Angebot wählen, gilt bei ihm nicht.
Ich meine, es gibt ja gar keinen positiven Grund, die AfD zu wählen. Sie hat in Wahrheit gar nichts anzubieten außer ihrem Hass. Sie holt die Leute nur bei Ressentiments und negativen Empfindungen ab. Und deswegen ist es eben zumindest unklug, solche Ressentiments zu schüren.
Die Linke erkennt man demnach an ihrem nicht klugen Nichthandeln. Neben dem sei die übrige Schuld den Medien aufzuladen.
Die Medien spielen sicher eine große Rolle, das ist klar. Also wenn ich zum Beispiel morgens den Deutschlandfunk, eigentlich seit Jahrzehnten mein Stammsender, einschalte, dann werde ich bis abends agitiert. Das ist schon wahr.
Jens Jessen hat damit das neue Hegemon-Argumentationsprinzip auf die Spitze getrieben: Das Spiel über Bande. In dem Falle: Links, und damit schuld, sind alle, die keine Bekenntnisse ablegen, beispielsweise gegen den Deutschlandfunk. Man kann nicht direkt sagen, wer diese Linken sind. Aber über drei Ecken soll es so dann doch gelingen, sich zumindest selbst freizusprechen.
Bei Žižek ist dieses Spiel über Bande ein großes Thema, ganz prominent übernommen von Jacques Lacans Konzept des Begehrens. Wir kennen es als Fundament von Peter Thiels Denken. Diskussionen drehen sich um einen Inhalt, aber nur, weil andere auch an der Sache interessiert sind. Wir verschieben unsere Wünsche von der Sach- in die Sozialdimension. Ich weiß, dass Labubus coole Dinger sind, weil mir Menschen erzählen, dass andere Menschen sagen, dass sie cool sind. Bis andere Menschen mir davon erzählen, dass noch andere sie jetzt schon im Supermarkt kaufen. Also doch uncool, weil coole Leute sagen, dass jetzt die Uncoolen die Labubus auch cool finden.
Nils Kumkar hat in seinem klugen Buch zur Polarisierung den Mechanismus beschrieben, wie sich die „Komplexität in der Sachdimension radikal reduzieren“ lässt, indem alles auf ein „simples Schema in der Sozialdimension“ umgelegt wird.
Im Radio-Gespräch mit Jens Jessen war er glücklicherweise auch zu Gast. Er nutzte die Gelegenheit, „über die Schwäche der Linken“ zu reden. Tatsächlich sei es doch die „Erschöpfung von Zukunftsvorstellungen“ die dazu führe, dass jeder sachliche Einwurf in der Diskurs sofort in einer Gewinn- und Verlustrechnung der unterstellten Lager münde.
Wenn ich die Artikulation von Gruppeninteressen immer nur als Beschneidung meiner Gruppeninteressen wahrnehmen kann, also wenn Frauen ihre Rechte einfordern, das automatisch bedeutet, dass ich als Mann indoktriniert, beschnitten und klein gehalten werde, dann deutet es ja darauf hin, dass wir uns nicht mehr vorstellen können oder dass viele Menschen sich nicht mehr vorstellen können, dass wir unter Umständen auch gemeinsam mehr haben könnten.
Die letzte große Gemeinsamkeit ist demnach, dass man sich gegenseitig nur noch etwas wegnehmen kann. Kumkar spricht von der „Krise des Gemeinsamen“. Als er vom Moderator auf den „Gemeinsinn“ angesprochen wird, bremst er ihn aus und korrigiert, nein, er habe vom „Gemeinsamen“ gesprochen. Dieser Stolperer und die sofortige Korrektur war einer der ganz wenigen Momente im heutigen Mediengeschäft, in dem mal jemand darauf bestand etwas Unmittelbares festzustellen – statt gleich wieder die zweite, dritte oder vierte Abstraktion zu üben, um nur wieder für Zusammenhalt, Solidarität oder Toleranz zu werben. Das Gemeinsame! Sinn hin oder her.
Sagt jemand, Zusammenhalt, Solidarität und Toleranz sei bitter nötig, weshalb man über die linken Spalter nun reden müsse, sollte man dieser Offerte erstmal widersprechen meint Kumkar.
Wenn wir im Feuilleton oder im Kulturradio die Chance haben, darüber zu reden, dann liegt, glaube ich, eine wichtige Aufgabe von uns darin, genau diese Wahrnehmung erst mal zu problematisieren. Nicht um zu sagen, dass sie eingebildet ist, die Leute sind ja nicht verrückt, sondern um die komplexen Mechanismen aufzudröseln, wie zum Beispiel das unmittelbare soziale Nahumfeld von JournalistInnen in Berlin plus Medienstrategien der Rechten plus massenmediale Konfliktinszenierung dazu führen, dass wir alle das Gefühl haben, in einer polarisierten Gesellschaft zu leben, obwohl wir als SozialwissenschaftlerInnen, wenn wir versuchen, das zu messen, und das wird ja einigermaßen verzweifelt seit mehreren Dekaden versucht, genau diese Polarisierung regelmäßig nicht finden.
Also ja, ein Hirngespinst. Aber ein fabriziertes: Nahfelderfahrung von Journalisten + Medienstrategien von Rechtspopulisten + massenmediale Konfliktinszenierung = Rechtsruck an dem die Linken schuld sind.
Hierin liegt auch eine Erklärung für den anhaltenden, sagenhaften Erfolg von Donald Trump.* Er redet von der „Antifa“ als handelte es sich um eine verfasste Organisation wie die Vereinten Nationen. Das ist bescheuert. Damit bedient er jedoch eine Sehgewohnheit, die Zeitungen und Nachrichtensendungen seit Jahrzehnten prägen, wenn sie von der Jugend, politischen Lagern, sexuell orientierten Communities, Rad- oder Autofahrern, Touristen oder Fußballfans schreiben. Es hat alles ganz wenig mit uns und ganz viel mit der Fantasie zu tun, dass aus einer Vereinfachung in der Beobachtung etwas folgt, dass der Hegemon mehr als ein Hirngespinst sei.
*Trumps Erfolg bleibt rein virtuell auf die Köpfe gemünzt, die er weiterhin in seinen Bann schlägt. Gesellschaft findet aber nicht im Bewusstsein statt.


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