Wo verankern wir die „Realität“?

Niemand liest mehr Zeitung, wir hören politische Podcasts. Aber was wird dort besprochen? Wir sollen das Grundgesetz originalistisch auslegen, mit dem Kanzler Geburtstag feiern und „Theorien“ der praktischen Radikalität folgen. Das geht nicht auf.

Auf der Suche nach Orientierung werden jetzt Haken geschlagen. Normale Menschen nehmen zwar auch morgen denselben Bus wie gestern, kaufen weiterhin dasselbe Brot und sie hören dieselben Podcasts. In denen allerdings regiert nun das Chaos, was sich darin zeigt, wie angestrengt geruhsam die Erforschung von Realität und Richtung verläuft. Journalisten, die nicht mehr weiterwissen, könnten das stattdessen auch ehrlich sagen.

Paul Ronzheimer betitelte seinen Podcast heute Morgen Scholz’ „Hofnarr“-Ausraster: Paul stand daneben. Hofnarr, Ausraster, Paul? Nennen wir ihn Paul. Er war auf der Geburtstagsfeier eines Industriellen, mit anwesendem Kanzler und weiteren Wahlkämpfern. Worte sind gefallen, Skandale werden konstruiert, aber erst Tage später. Ausgerechnet Ronzheimer fragt in seinem Podcast:

„Natürlich belastet es den Wahlkampf. Erstens kommt Olaf Scholz nicht mehr mit den Themen durch, die er setzen wollte. Also neben den klassischen SPD‑Themen, Arbeit, Rente, Wirtschaft, da hört momentan keiner zu. (…) Und ich bin mal gespannt, wie lange das groß bleiben wird, denn man kann ja auch durchaus die Frage stellen, ob wir hier im Land irgendwie nochmal über die großen Themen sprechen sollten.“

Paul Ronzheimer

Wir wissen, welche Themen nun „groß“ werden und in den kommenden Stunden „hier im Land“ (in den Podcast-Sonderfolgen) besprochen werden: München, Afghanen, Aufenthaltstitel, Anschlag, Abschiebung, Ausländer.

Ebenfalls heute Morgen war Louis Klamroth von hart aber fair bei Markus Feldenkirchen im Podcast zu Gast. Dort dasselbe Spiel. Markus stand nicht wie Paul direkt neben dem Kanzler, als dieser vermeintlich rassistisch redete. Aber der Kanzler hatte einen Termin bei ihm, nachdem die Vorwürfe publik wurden.

„Also ich glaube, Markus, du musst mir erzählen, wie du darauf schaust, weil du hattest wieder mal ein perfektes Timing und an dem Tag, an dem diese Meldung rauskam, hast du Olaf Scholz zum Spitzengespräch gehabt. Insofern, ich gehe davon aus, du wirst mit ihm gesprochen haben.“

Louis Klamroth

Für Louis Klamroth ist der Kanzler ein Verlierer „der ganzen Sache“. Weil „Olaf Scholz, dem jetzt kurz vor Ende dieses Wahlkampfes noch so eine Geschichte reinkommt und er dann unter anderem bei dir und in anderen Formaten, wo er zu Gast sein wird, darüber sprechen muss und nicht über die Inhalte, über die er wahrscheinlich gerne sprechen würde.“

Komisch. Die Journalisten, Wahlkämpfer, Politiker reden ständig darüber, über welche Themen sie nun nicht reden können, obwohl sie es wollten. Es ist wie im Märchen, irgendwo drückt ständig der Schuh. Der gehört auch noch wem anderem. Blut fließt, man wartet aufs Happy Ending, nur kommt es nicht, es gibt in der Politik ja kein Ende.

Sehr eindrucksvoll war das Hakenschlagen heute Morgen bei Robin Alexander im Podcast. Er geht immer eine Extrameile, um seine Themen zu platzieren. Er hatte es schon angekündigt, als er kurz vor Weihnachten beim Politikpodcast-Jahresrückblick des Deutschlandfunks mit zu Gast war:

„Also wir merken, dass wir uns dahin entwickeln, dass wir immer kleinteiliger erklären. Also dass unsere Meinung gar nicht so gefragt ist, sondern dass wir, also wir machen ja jetzt auch deutsche Politik, Berliner Politik, dass wir sehr klein erklären, wie ist ein parlamentarischer Ablauf und wie ist der Streit in der Union jetzt. Und vielleicht auch, weil wir beide uns so sehr mögen, dass wir da nicht so ein Konfliktpotenzial haben. Also wir sind eher so Erklärbär und Erklärbärin.“

Robin Alexander

Heute hat er sich wieder vorgeführt, als Erklärbär auf vermeintem Gelände. Wie platziert man ein totgeredetes Thema so, dass es alle anderen verdrängt? Abschiebung, Asyl, Aufenthaltsrechte, Asyl, Abschiebung, Asyl, Ausländer, Asyl, Abschiebung. Haben wir nicht schon genug darüber geredet?

Robin Alexander hängt seinen heutigen Podcast, die Dankbarkeit können wir ihm zollen, nicht an einer Autofahrt auf (dafür war er zu früh), sondern an einem Text, geschrieben im Spiegel von einem der „bedeutendsten Historiker Deutschlands“ (Spiegel). Wir können ihn auch „Wer kennt ihn nicht?“ (Stefan) – Heinrich August Winkler – nennen. Es reicht fast, die Überschrift seines Textes zu lesen: Die deutsche Asyllegende. Das „subjektive individuelle Grundrecht“ sei, sofern überhaupt noch erwähnenswert, „eine Geschichtslegende“, eine Behauptung.

Hätte man vermuten können, die alten Historiker hängen an den alten Errungenschaften. Nein, sie schreiben schon so, wie die jungen Leute TikTok machen. Der Leser gönnt dem Content ja nur 0,3 Sekunden, also schreibt man besser alles schon in den ersten Absatz:

Eine Geschichtslegende behauptet sich in Deutschland: die Legende vom subjektiven individuellen Grundrecht auf politisches Asyl, das der Parlamentarische Rat 1948/49 in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen habe, um eine Konsequenz aus der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus zu ziehen. Tatsächlich war die Entstehungsgeschichte des Artikels eine andere. Die These vom subjektiven individuellen Asylrecht widerspricht den Absichten der Verfassungsschöpfer.

Soweit so gut. Der Rest wird im Podcast entfaltet. Die Dumbledorehaftigkeit des Professorentums ergänzt Robin Alexander mit den entsprechenden Hinweisen auf die akademischen Arbeiten Winklers zur SPD, der Arbeiterbewegung und Deutschlands Schicksal. Die Klangfarbe der Ausführungen können wir uns vorstellen, Dagmar Rosenfeld leitete so ein: „Und es ist nicht irgendein SPD-Mitglied und nicht irgendein Historiker, sondern der wohl bedeutendste deutsche Zeitgeschichtler, nämlich Heinrich August Winkler.“ Ok, ok, ok, ich kapituliere ja schon und lausche andächtig.

Robin Alexander führt aus. Winkler habe ja schon mal so publiziert, damals 2016, frisch aus der SPD ausgetreten, verwies er bereits darauf.

Kurzform: Deutschland hat, durch sein schlechtes Gewissen, 1945 einen zweiten „Sonderweg“ eingeschlagen. Der erste führte in Faschismus und Weltkrieg, der zweite „überkompensierte“ die „Heilungsgeschichte“ zurück in die Zivilisation und gönnte den Flüchtlingen dieser Welt ein individuelles Ankunftsrecht in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat es zwar in jahrzehntelanger Rechtsprechung immer so gesehen, doch es entspricht nicht der Idee des Grundgesetzes. Nun müsse das leicht übergeschlagene Pendel zurück ins Lot.

Diese Herangehensweise an zeitgenössische Politik kennen wir schon von den Originalisten, Textualisten, Realitätsausblendern in Amerika. Dort werden Probleme nicht mehr mit Politik gelöst, man zieht sich stattdessen zurück und konsultiert nochmal die toten Gründungsväter. Was würden diese Legenden der guten alten Zeit heute sagen? Wissen wir nicht, sie sind ja tot. Aber irgendwo im Text wird sich die Antwort schon finden lassen, also lesen wir noch einmal genauer.

Allerdings muss das neue, alte Wissen – frisch interpretiert – dann auch in die Welt. Da wir keinen ahnungslosen Donald Trump haben, der Josh Hawley lesen und Elon Musk werkeln lässt, muss was anderes Grenzüberschreitendes und Unhintergehbares her. Wie wäre es mit einer waghalsigen Theorie, passend zu einer politischen Praxis, die keine Alternativen mehr zulassen möchte?

Sechs Minuten nach seinem Winklerzug zur deutschen „Asyllegende“ redet Robin Alexander über Ruud Koopmans, Sozialwissenschaftler aus den Niederlanden, der sich mit Migrationsfragen beschäftigt.

Kurzform: Bevor Politiker „politisch sterben“, weil sie zu viel über Migration reden, aber nichts passiert, könnte „man durch eine deutsche Grenzschließung einen Schockmoment“ auslösen. Das würde „die Europäische Union so schocken, dass die dann in ernsthafte Verhandlungen kommen“.

Dass man für diese einfachste aller Überlegungen überhaupt Autoren braucht, oder es als „Theorie“ labelt, ist lächerlich genug. Was soll das überhaupt für eine Idee sein? Eine Grenzschließung zu Österreich allein würde die Ressourcen des Staats bereits aufbrauchen. Wer schließt die anderen Grenzen? Welche Bundespolizei ruft ein Fahrscheinkontrolleur in Stuttgart an, wenn ein Schwarzfahrer keine Lust auf die übliche Prozedur hat?

Die politischen Podcasts sind alle toll! Aber sie haben ein gestörtes Verhältnis zur Realität, zur Geschichte, zur Politik und zu den Politikern. Die Wahrheit liegt entweder in den alten Ideen, hinter den alten Texten oder in der Radikalität der politischen Praxis von morgen. Wer weiß das schon, warten wir es ab. Ohje. Der Satz „aber die Grammatik stimmt“ darf nicht ausreichen. Die Dinge sollten auch zueinander passen und relevant sein. Wir kommen im nächsten Live-Salon darauf zurück.


Alle Texte als Podcast (ki-gelesen) und demnächst REDAKTIONSSCHLUSS als kommentiertes Hörbuch (von mir gelesen) gibt es bei Steady.


Eine Antwort

  1. Avatar von Sebastian

    Grüße aus Dresden,

    Ich finde es super, wieder einem Blog lesen zu können. Bitte adde mich auf MySpace, falls wir das auch wieder erleben dürfen.

    Vg,
    S.

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