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Stefan Schulz, Dipl. - Soz.
Soziologie, Soziologie?
Was studieren Soziologen? Wie macht man Soziologie? Was macht man anders als andere Sozialwissenschaftler? Oder: Warum sollte man einen Soziologen fragen?
Diese Fragen sind pauschal nicht zu beantworten. Und dennoch entwickelt jeder Soziologe im Laufe seines Werdeganges ein Gespür für die Stärken des Fachs. Erfahrungsgemäß ist es so, dass jeder (angehende) Soziologe während seines Studiums sein eigenes Wissens- und Fertigkeitenprofil gewinnt und es zu großen Unterschieden zwischen den Universitäten aber auch zwischen den Studierenden innerhalb einer Uni, eines Studiengangs, sogar eines Seminars, kommt.
Von daher möchte ich die Frage “Warum einen Soziologen fragen?” in höchstpersönlicher Manier beantworten. Es handelt sich sowohl um meine Ansichten, wann sozialwissenschaftliche Arbeit gute Soziologie ist, als auch um eine Darstellung meines Soziologie-Profils. (Für einige handelt es sich wahrscheinlich um die Auflistung der gängigen Allgemeinplätze.)
Warum sollte man einen Soziologen fragen?
Weil Soziologen ...
- … soziale Strukturen als das ansehen, was sie sind: selbstreferenzielle Entitäten. Soziale Strukturen, wie sie Interaktionen, Organisationen und die Gesellschaft bestimmen, sind nicht bloße Folgen menschlichen Verhaltens. Sie haben ihren Ursprung nicht in Wille und Vorstellung des Einzelnen. Und sie können ebenso wenig beliebig gesteuert werden.
Soziale Strukturen können allerdings beobachtet und beschrieben werden. Sobald man davon ablässt, den Menschen als das Maß aller Dinge zu betrachten, ist der Blick frei, sich den generativen und regulativen sozialen Mechanismen von Interaktionen, Organisation und Gesellschaft zuwenden. Jede Ebene hält ihre Eigenheiten und Überraschungen bereit und richtig interessant wird es, wenn es um die Schnittpunkte geht.
- … niemals den einfachen Weg gehen. Kein Soziologe wird einen Schuldigen, bessere Lösungen oder mehr Profitmöglichkeiten suchen/finden. Die Themenwahl in der Soziologie ist selten verständlich nach außen zu vermitteln. Doch das Interesse ist stets das gleiche: Es geht um das Verstehen, wie etwas passiert, das passiert, obwohl so viel anderes passieren könnte. Es geht stets um die gleiche Frage: “Wie ist (diese) soziale Ordnung möglich?” Und es geht immer um den Blick zurück, niemals um Prognosen.
Der große Vorteil der Soziologie ist, durch grundlegendere Fragen an den Gegenstand Erkenntnisse zu erarbeiten. Im Anschluss kann man immer noch praktische Schlußfolgerungen ziehen.
- … nicht die Gesellschaft studieren, sondern die Möglichkeiten der Beobachtung von Gesellschaft. Soziologen fallen vor allem dadurch auf, dass sie endlos Reden und Schreiben. Das Maß an Gerede und Text orientiert sich dabei nicht an dem Umfang des sozialen Gegenstandes. Die Europäische Union ist zwar gewaltig, für einen Soziologen muss es sich aber nicht zwangsläufig um ein umfänglicheres Thema handeln als das Schweigen im Fahrstuhl.
Wer sich einer Soziologie des Stammtisches zugewendet hat, kann bei einer Vorstandsitzung mehr beobachten, beschreiben und verstehen als jeder mathemagisch geschulte Prädikats-BWLer.
- … vor Ideologien geschützt sind. Die Gesellschaft ist weder der Staat, noch die Wirtschaft, noch die Wissenschaft, … . Nicht jede Sozialität lässt sich durch den Nachvollzug von Geldflüssen beschreiben. Nicht jede soziale Asymmetrie lässt sich mit Macht und Herrschaft labeln. Gleiches gilt für Ideologien, die die Gesellschaft als Wissens-, Risiko- oder digital ausrufen. Ein Soziologe behält die Übersicht und weiß wann Mathematik, wann Moral, wann Werte, wann Wissen oder etwas anderes eine Rolle spielt und wann nicht.
- … das “Handbuch der sozialen Wirklichkeit” vermeiden. Sie würden es weder schreiben, lesen noch anderweitig benutzen. Soziologen schöpfen aus thematischen Monografien, ausführlichen Methodikbüchern, theoretischen Grundsatzwerken und empirischen Studien. Alle diese Bücher stehen in Bibliotheken und nur teilweise zuhause im Regal. Nur selten greift ein Soziologe zu einem Buch, das im Titel bereits den Begriff trägt, den ihn in der sozialen Wirklichkeit interessiert (ausgenommen “Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft”, da steht der Begriff, um den es immer geht, bereits zweimal im Titel. ;-). Falls man doch einen Soziologen mit einem Praktikerbuch erwischt, handelt es sich um Forschung im Feld.
- … zwischen Themen und Problem unterscheiden. Dies hilft zum einen, um den wichtigen Abstand vom Gegenstand zu gewinnen (mehr Beobachten, weniger Teilnehmen). Gleichzeitig ist es auch der zentrale Clou. Wenn ein Problem verstanden wurde, erhält man die in der Soziologie notwendige Sensibilität bleibt aber thematisch so offen wie möglich.
- … weil Soziologen zwischen Semantik und Sozialstruktur unterscheiden. Die soziale Funktionslogik versteckt sich schnell und häufig hinter festgehaltenen Historien, geordneten Beschreibungen und gelebten Erzählungen. Betriebsblindheit ist der Normalfall des Alltags. Viele Sozialwissenschaften verlassen sich auf ihre Methoden der Interpretation von Selbstbeschreibungen. Soziologen verlassen sich auf ihre Rückversicherung in der Theorie und lassen sich, auf gesichertem Grund, vom Gerede irritieren.
Es gilt abschließend anzumerken, dass die Soziologie keine bessere Sozialwissenschaft macht, als andere Disziplinen. Jede Disziplin hat ihr Feld, ihren Arbeitsauftrag, ihre Problemstellungen und ihre Methoden. Aber zum Auftrag der Soziologie gehört es (auch), sich in alle anderen Disziplinen einzumischen, sie zu irritieren und herauszufordern.
Literatur
Auswahl an Texten, die im Studium entstanden (mutig präsentiert)
2010 - Die politische Legitimation der Europäischen Union (pdf) (Theoretische, funktionale Analyse)
2009 - Die andere Demokratie der Europäischen Union (pdf) (Eher empirische, historische Analyse)
2008 - Die Auflösung der Villikation als Beginn der Moderne (pdf)
2008 - Obwohl personenzentriert: Funktionen von Coaching für Organisationen (pdf)
2008 - Funktion von Pausen in geregelter Interaktion (pdf)
2008 - Emotionen: systemtheoretisch (pdf)