Die Kirche hat uns zuletzt eindrucksvoll gezeigt, wie es geht. Nicht nur, weil alles rund um die Papst-Wahl herrlich aussah, der Klamotte und Architektur sei Dank, sondern auch, weil es gelang: Bedarf erkennen, Verfahren einhalten, Erfolg verkünden, Arbeit beginnen.
In der Bundespolitik dagegen Chaos und Stress. Die Regierung zerbrach, die geplanten Abläufe in der Zeit-, Sach-, und Sozialdimension wurden hinfällig. Fast hätten wir Wahlkampf in der Weihnachtspause gehabt. Ausgerechnet der Spätzünder Friedrich Merz, der drei Anläufe für den Chefposten in seinem eigenen Haus brauchte, hatte es plötzlich eilig. Als alles geregelt schien, wurde es besonders hektisch. Ich bleibe bei meiner Vermutung: Ohne ChatGPT hätten sie im Bundestag zu lange gebraucht, um den zweiten Kanzlerwahlgang noch am selben Tag zu wagen. Der Hühnerhaufen ließ sich nur von einer nüchternen Maschine zähmen.
Ich habe mit Mick im Podcast festgehalten, dass eigentlich jede Aussage von Friedrich Merz in der „Was nun?“-Sendung vom Tage seiner Kanzlerwahl semantischer Quatsch ist; ausgesprochen, damit sich die Fernsehzuschauer wohl fühlen, aber alles in allem nichts als Floskeln. Und dieses Urteil gilt nicht nur für ihn, sondern für einige aus der neuen Bundesregierung und der CDU-Fraktion. Sie reden viel, aber damit lässt sich die Realität nicht beschreiben, geschweige denn Zukunft gestalten.
Hört euch mal an, was Sabrina vom Podcast Parlamentsrevue zu Alexander Dobrindts Vorstellungsrede als neuem Bundesinnenminister sagt:
Sabrina zu Dobrindts Rede:
„Jetzt ist er also Innenminister und er hat in seiner Rede, ihr habt einige Ausschnitte gehört, sehr ausgiebig den Katalog vorgestellt, den sein Ministerium plant umzusetzen. Auch da gibt es schon an diversen Stellen starke Einwände, dass Dinge nicht mit EU-Recht vereinbar sind. Ich erkenne da einen roten Faden. Einige der Punkte könnten auch bereits gegen das Grundgesetz verstoßen. Das dürften also spannende vier Jahre werden. Ich fand seine Rede auch im Tonfall sehr, sehr anders als die anderen Reden. Die anderen Ministerien waren doch alle sehr sachlich. Niemand ist wirklich laut geworden. Alle haben sich eher bemüht, einen positiven, optimistischen Blick in die Zukunft zu geben. Das ist mal besser gelungen, mal schlechter. Aber der Versuch war erkennbar. Die Rede von Alexander Dobrindt war da wirklich völlig anders. Ich muss sie auch noch ein bisschen sacken lassen. Ich denke, ich werde in späteren Folgen nochmal darauf zurückkommen.“ Quelle
Das Bundesinnenministerium soll die Verfassung schützen. Doch nun steht die Verfassungstreue der Führungsriege selbst von Tag eins an infrage. Und zwar vor allem, weil Friedrich Merz’ Fernsehfirlefanz (Grenze zu, an Tag ein) nicht aufgeht.
Ganz ähnlich gilt es für Jens Spahn als neuen Fraktionsvorsitzenden der CDU. Er soll Friedrich Merz künftig die Mehrheiten im Parlament organisieren. Maurice blickt beim Besprechen seiner Antrittsrede im Parlament zurück auf seine organisatorischen Fähigkeiten und es ist dasselbe Urteil: Dieser Mann ist nur wegen der Fernsehtauglichkeit seiner Floskeln auf seiner Position.
Maurice zu Spahns Rede:
„Also ich sag mal so, wenn wir alle den Schuss gehört hätten, dann könnte so jemand wie Jens Spahn mit etlichen Skandalen an den Hacken, der als Gesundheitsminister es komplett vergeigt hat, nicht wieder so einen mächtigen Posten in der Politik erlangen.“
So lässt sich nicht regieren. Mit Floskeln kommt man schon nicht weit, selbst wenn ansonsten alles in Ordnung wäre. Es ist aber wie Mick sagte: Diese Bundesregierung ist besonders abhängig von dem, was außerhalb ihrer politischen Hoheit geschieht. Sie kann gar nicht so viel regieren, sondern sie muss vor allem reagieren – auf Trump, Xi, GPT, Putin, BYD, … . Und dafür braucht sie ein anderes, zum Glück simples Konzept. Sie muss sich fokussieren. Fokus statt Floskeln im Parlament. Führung statt Firlefanz im Fernsehen. Zu beidem – Führung und Fokus – gibt es sehr hilfreiche Literatur. Zum einen Judith Musters und Stefan Kühls neueste Publikationen.
Der Einfachheit halber beziehe ich mich auf meinen eigenen Text zu Musters Führungsbegriff, wie ihn Judith Muster im Gespräch ausgelegt hat. Ich zitiere meinen Text dazu aus der Kinderwüste:
Vielleicht schaffen wir es, unsere Sprachlosigkeit von hinten aufzurollen. Wir könnten es an einem der Grundbegriffe der Managementliteratur prüfen: Führung. Gehen wir intuitiv an den Begriff heran, denken wir sofort an den Chef, seine Macht und den Befehl. Dabei beginnt die aufgeklärte Beschreibung ganz anders: »Führung findet immer in Interaktionen statt, immer in Situationen, immer mit der Vorbedingung, dass sich die Situation nicht durch Struktur klären lässt«, sagt die Soziologin und Beraterin Judith Muster in einem Podcast mit dem interessanten Namen »Corporate Therapy«. Führung brauche einen »kritischen Moment«, in dem »Unsicherheit entsteht« und dennoch der nächste Schritt gegangen wird. »Hierarchie und Führung sind eben nicht dasselbe«, sagt sie. Könnte die Hierarchie in so kritischen Situationen aushelfen, müsste der Vorgesetzte schließlich nur verkünden, wo es als Nächstes hingeht.
Die Kinderwüste
Ein Führungsbegriff, der aus dieser Aufgabenstellung heraus entwickelt wird, passt ja eigentlich idealtypisch auf die Herausforderung, Deutschland in einer unklaren und überraschenden Weltlage politisch zu navigieren. Allerdings gibt es einen Stolperstein. Diese Art von Führung, die sich von Beschränkungen allzu strikter Programmatik befreit, braucht umso mehr geeignetes Personal:
Führung findet statt, wenn Satzung und Hierarchie – also die moderne Organisation – an ihre Grenze kommen und »jemand« wieder Orientierung schafft. Wir können uns fragen, wie das gelingt und wer dieser »jemand« ist: Eine Person wagt einen mutigen Schritt und sticht mit einer Idee heraus. Sie bietet einen gemeinsamen Weltentwurf an und wirbt um Unterstützung. Ob es gelingt oder nicht, entscheidet sich in wenigen Augenblicken. Durch Eile bleibt weniger Zeit zu reflektieren, man macht erst mal. Der Vorschlag darf sich bewähren. Dieses Verständnis von Führung hat nicht zufällig eine große Nähe zur Verführung.
Die Kinderwüste
Es ist zu erwarten, dass in den nächsten Wochen und Monaten Revisionen zu vielen verkündeten Meinungen über die Ampelregierung zu lesen sind. Die Wärmepumpe wird rehabilitiert, die Gaslieferpolitik noch einmal besonders hervorgehoben, der Arbeitskräftemangel betont. Aber es ist auch denkbar, wenn nicht schon absehbar, dass auch die Charaktere noch einmal beschrieben werden. Der besonnene Kanzler, der Waffenlieferungen nicht von Stimmungen im Fernsehen abhängig machte, und der charmante Wirtschaftsminister, der sich trotz allem in eine unmögliche Mission begab. Sie werden uns umso mehr fehlen, je länger sie weg sind.
Literatur zum anderen neuen Grundbegriff – Fokus – wird bald auf Deutsch veröffentlicht. Ezra Klein und Derek Thompson fordern Abundance – also Fülle, beziehungsweise Überfluss. Damit reagieren sie auf die Knappheit an Infrastruktur, Wohnungen und guter Politik. Sie betonen in ihrem Buch allerdings auch eine Knappheit an Fokus.
Die beiden gehen mit dem Begriff besonders sorgsam um und verpacken ihn clever in einer Unterscheidung mit Geld:
Unzählige Steuergelder wurden für Krankenversicherungen, Wohngutscheine und Infrastruktur ausgegeben, ohne einen ebenso energischen Fokus – manchmal ganz ohne Fokus – darauf, was mit all dem Geld tatsächlich gekauft und gebaut wurde. Dies spiegelte einen Glauben an den Markt wider, der auf seine Weise nicht weniger rührend war als der der Republikaner. Man ging davon aus, dass der Privatsektor soziale Ziele erreichen würde, solange ihm genügend Geld vorgehalten würde.
Abundance
Wir kommen nun in eine Zeit, in der sich politische Problemlösungen nicht mehr einfach mit Geld kaufen lassen. Wir haben ja keine Knappheit an Geld in Zeiten, in denen Bundestag und Kongress über die Existenz von Billionen von Dollar und Euro einfach entscheiden. Es mangelt dagegen an allem, was man bislang für Geld kaufen konnte: Handwerksstunden, Material und Ideen. Oder kurz: politischen Programmen.
Die Atombombe, das Internet, die Mondraketen, die Coronaimpfungen lagen nicht im Regal, abholbereit für denjenigen, der an der Kasse genug Geld hinlegte. Die Politik musste mit dem Manhattan-Projekt oder Projekt-Warp-Speed selbst ran. Leute finden, Hierarchien aufbauen, Material beschaffen und Ziele formulieren. Oder kurz: politisch arbeiten.
Heute lässt sie sich einlullen von milliardenschweren Solutionisten, die ihr vorgaukeln, dass man ihnen einfach noch mehr Milliarden überweist und dann etwas passiert. Das ist aber nicht so. Der reichste Mann der Welt bekämpft nicht die Armut, sondern nur die Armen, urteilte der zweitreichste Mann der Welt jüngst.
Kann sich die Politik die Kapazität fürs politische Planen und Programmieren zurückerobern? Es ist doch gerade alles so chaotisch, die haben sicher die Hände voll… Nein, sagt Ezra Klein. Jetzt sei stattdessen die beste Zeit, und er verkoppelt den Fokus-Begriff mit unserem Führungsbegriff:
Ja, Krisen sind ein Fokussierungsmechanismus. Aber Führungskräfte definieren, was als Krise gilt. Und Führungskräfte sind diejenigen, die sich entscheiden zu fokussieren.
Abundance
Fokus taugt damit zum Grundbegriff, für uns alle. Eine Gruppe lässt sich aber noch gesondert hervorheben. Auch diejenigen, die darüber befinden, zu welchem Thema abends im Fernsehen mit dem politischen Personal gesprochen wird, müssen den Fokus als Grundbegriff in ihre Arbeit aufnehmen. Solange dies nicht geschieht, bleibt die Gegenseite der Unterscheidung aktuell, und sie sollte man den Verantwortlichen auch überall kritisch vorhalten. Dass die Politik verseucht ist mit Floskeln, ist schon allen klar. Die Medien allerdings sind vermüllt mit Firlefanz, und das sollte man auch bei jeder Gelegenheit sagen.
Notiz: Ausführliche Besprechung von „Abundance“ im Salon der Neuen Zwanziger.
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