Ich war am 21. Oktober in Jena um auf Einladung von Annett Hänel für die Friedrich-Naumann-Stiftung über die Kinderwüste zu sprechen. Auf der einen Seite mein Buchtitel, auf der anderen Seite erschütternde Realität in Thüringen. Ich trage die aktuellen Zahlen zu Beginn unseres Gesprächs vor und münze dann meine zentralen Anliegen im Buch auf sie.
Annett Hänel: Herzlich willkommen, Stefan Schulz. Nach Ihrem letzten Buch „Die Altenrepublik“ legen Sie mit „Kinderwüste“ sozusagen die Kehrseite der Medaille vor. Sie sind Jahrgang 1983, Jenenser, Soziologe, wurden von Frank Schirrmacher zur FAZ geholt und sind heute vor allem als prägender Kopf der deutschen Podcast-Landschaft bekannt, etwa mit „Die Neuen Zwanziger“. Jetzt also die „Kinderwüste“. Sie sagten mal, bei Schirrmacher gelernt zu haben: Unter Weltuntergang macht man kein Thema. Ist die Kinderwüste ein Weltuntergangsthema?
Stefan: Das war natürlich ein kleiner Scherz. Aber Schirrmacher hat oft suggeriert, morgen ginge die Welt unter. Mir ging es bei ihm aber immer um die Machtfragen: Wer dominiert, wer kann handeln? Bezogen auf unser Thema heute: Ich bin selbst Vater von drei Kindern und zum Glück in einer Lebensphase, in der Fragen nach Berufseinstieg oder Wohnungssuche hinter mir liegen. Viel wichtiger sind doch die, die keine Kinder haben – vielleicht viele hier im Publikum. Ich habe mir auf der Fahrt hierher aktuelle Zahlen für Thüringen angeschaut und bin, ehrlich gesagt, erschüttert.
Annett Hänel: Teilen Sie diese Zahlen mit uns.
Stefan: Gerne, im alarmistischen Stil des Weltuntergangs: Die Geburtenentwicklung hier ist wirklich beeindruckend – im negativen Sinne.
Nehmen wir als Referenz das Geburtsjahr meiner Eltern, 1959: Thüringen, also das Gebiet der heutigen Landesgrenzen, verzeichnet 48.110 Geburten.
Mein eigenes Geburtsjahr, 1983: Nur noch 37.865 Geburten, ein Minus von mehr als 21 Prozent.
2004, das Jahr, in dem ich Thüringen verließ: 17.537 Geburten. Das ist mehr als eine Halbierung gegenüber 1983, minus 53 Prozent.
Und 2024: Thüringen unterschreitet die Marke von 12.000 und erreicht mit 11.803 Geburten einen historischen Tiefststand – nochmal minus 32 Prozent gegenüber 2004. Seit Beginn der Erhebung 1955 wurden noch nie so wenige Kinder geboren.
Das ist als reine Statistik schon beeindruckend. Dahinter stecken aber aufsummierte Lebensentscheidungen. Solche Zahlen sind ja auch ein Indikator für Lebenszufriedenheit, Zukunftsgewandtheit oder eben Weltuntergangsstimmung.
Annett Hänel: Gilt das auch für das urbane Zentrum Jena?
Stefan: Die Hoffnung trügt. Jena ist im Thüringer Maßstab zwar die Nummer 1, aber die Entwicklung ist ähnlich dramatisch. 2020 hatten wir noch 1.052 Geburten, 2021 sogar einen leichten Anstieg auf 1.080. Aber dann, als Corona abklang und die Debatten über Krieg lauter wurden: 2022 ein Einbruch um fast 10 Prozent auf 975, 2023 nochmal minus 9 Prozent auf 883, und 2024 ein weiterer Absturz um mehr als 14 Prozent auf nur noch 755 Geburten.
Man sieht das auch am Zeitpunkt der 1.000sten Geburt am Uniklinikum Jena, die ja auch viele Frauen aus dem Umland anzieht: 2020 wurde diese Marke im August erreicht, 2021 im September, 2023 schon im Oktober und 2024 erst im November. Es ist absehbar, dass die Marke von 1.000 Geburten am Klinikum bald gar nicht mehr erreicht wird.

Annett Hänel: Was bedeuten diese Zahlen langfristig?
Stefan: Sie deuten auf eine massive Veränderung hin. Schauen wir auf die Kinderlosenquote der heute 45- bis 54-Jährigen in Thüringen: Sie liegt bei nur 12 Prozent – ein beispiellos niedriger Wert im deutschen Vergleich. Historisch wurden hier immer gerne Kinder bekommen. Wenn wir aber die heutigen Geburtenzahlen hochrechnen, wird die Kinderlosenquote der heute jungen Generation, wenn sie in diesem Alter ist, auf fast 25 Prozent steigen. Das ist eine Verdopplung und ein Wert, den es so in der Breite kaum irgendwo auf der Welt gibt.
Annett Hänel: Und warum ist das so? Liegt es nur an äußeren Krisen?
Stefan: Die Frage ist: Warum? Und wie kommt man aus dieser Notlage heraus? Es geht mir nicht darum, Mutterkreuze zu verleihen oder Bevölkerungszahlen hochzutreiben, wie es teils gefährliche politische Ideologien tun. Mir geht es um die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die Bundesregierung selbst hat Zahlen zum Kinderwunsch erhoben. Grob gerundet wird pro Frau statistisch ein Kind weniger geboren, als sie sich wünscht. Bei einer Geburtenziffer von 1,3 bis 1,4 müssten wir eigentlich bei 2,4 Kindern pro Frau liegen, wenn die Rahmenbedingungen stimmten.
Annett Hänel: Liegt es daran, dass man keinen Partner findet?
Stefan: Nein, die Daten deuten darauf hin, dass es nicht primär an Indikatoren des privaten Glücks liegt. Es sind eher die Rahmenbedingungen: Mieten, Zukunftsängste wie Krieg, Sorge um die Perspektive der Kinder.
Annett Hänel: Sie haben in Ihrem Buch zwei zentrale, radikale Forderungen, um diese Rahmenbedingungen zu ändern. Können Sie diese umreißen?
Stefan: Ja, das sind im Grunde die Takeaways:
Erstens: Eine Billion Euro für die Familien in Deutschland. Nicht als Programm, sondern als direkte finanzielle Stärkung. Das Statistische Bundesamt beziffert den Wert der unbezahlten Sorgearbeit (Care-Arbeit) auf 987 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist fast eine Billion. Rechnerisch sind das etwa 50.000 Euro pro Kind und Jahr. Dieses Geld muss in den Kreislauf – entweder direkt an die Familien, die dann entscheiden, wie sie es für Betreuung, Entlastung oder eigene Lebensqualität einsetzen, oder über massive Investitionen in Infrastruktur. Familien wissen selbst am besten, was sie brauchen. Der Vorwurf, sie würden das Geld für Zigaretten oder Elektronik ausgeben, ist durch Studien widerlegt. Geld kommt bei Familien an und fließt sofort zurück in den Wirtschaftskreislauf.
Zweitens: Demokratie für alle – Wahlrecht ab Geburt. In Deutschland sind fast 14 Millionen Menschen unter 18 Jahren von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. Gleichzeitig stellen Wähler mehr als 60 Jahre alt fast 40 Prozent der Wahlberechtigten. Das schafft ein massives Ungleichgewicht zulasten der Zukunftsthemen. Wenn Kinder ein Wahlrecht hätten, das treuhänderisch von ihren Sorgeberechtigten ausgeübt wird – so wie Eltern ja auch sonst jede Verantwortung für ihre Kinder tragen –, würden die Interessen dieser riesigen Bevölkerungsgruppe endlich politisch sichtbar. Es geht darum, Demokratie und Marktwirtschaft konsequent zu Ende zu denken: Kinder sind Menschen, also haben sie Wahlrecht. Familien leisten enorm viel für die Volkswirtschaft, also muss diese Leistung auch ökonomisch anerkannt werden.

Annett Hänel: Beginnen wir mit dem ökonomischen Aspekt. Sie beschreiben im Buch eine Mutter aus Möckmühl, die ihre Familie als Unternehmen zur Aufzucht von Säugtieren anmelden wollte, um Steuervorteile zu bekommen. Das wurde als Schwindel abgetan.
Stefan: Genau. Für mich ist diese Mutter eine Heldin. Ihr Gedanke ist volkswirtschaftlich hochplausibel. Der eigentliche Schwindel ist doch, dass ihr das versagt wird. Wäre sie superreich, könnte sie sich über ein Family Office Milliarden an Erbschaftssteuer sparen. Wäre sie ein Unternehmen, könnte sie jede Investition in die „Produktion“ – also die Kinder – steuerlich absetzen. Aber als Familie soll sie den göttlichen Auftrag erfüllen, Kinder großzuziehen, deren „Gewinn“ 20 Jahre später der Arbeitsmarkt abschöpft, ohne die „Produktionskosten“ je bezahlt zu haben. Ein 20-Jähriger, top ausgebildet, oft auch, weil die Mutter die Versäumnisse des Schulsystems ausgeglichen hat, müsste eigentlich wie eine Maschine aus China 2 Millionen Euro kosten. Stattdessen soll er froh sein über ein Einstiegsgehalt nahe 1.000 Euro. Das ist absurd. Wir müssen endlich ein Preisschild an diese reproduktive Leistung hängen.
Annett Hänel: Aber die Qualität der Bildung sinkt ja eher, Kitas und Schulen schließen sogar in Thüringen.
Stefan: Das ist ja genau die bescheuerte Logik, die ich nicht verstehe. Wenn in einer Schule statt 25 nur noch 20 Kinder pro Klasse eingeschult werden, ist das eine gigantische Chance, die Qualität zu heben, den Betreuungsschlüssel zu verbessern. Stattdessen spart man die 50.000 Euro für die Lehrerin und schickt das Kind 50 Kilometer weit zur nächsten Schule. Das ist selbsterklärend widersinnig.
Annett Hänel: Sie schlagen vor, das Familienministerium abzuschaffen und eher dem Wirtschaftsministerium anzugliedern. Warum?
Stefan: Weil das Familienministerium, so wie es ist, kaum Gestaltungsmacht hat. Das Budget für den Kinder- und Jugendplan ist winzig. Der Großteil sind festgetackerte Transfers wie Kinder- oder Elterngeld, die oft nur Durchlaufposten an Vermieter oder Arbeitgeber sind – im Grunde Wirtschaftspolitik über Bande. Ein Wirtschaftsminister hingegen hat Budgets in Milliardenhöhe, um Stahlwerke oder Energieprojekte zu fördern. Wäre das Familienthema dort angesiedelt, gäbe es plötzlich echte finanzielle Hebel, um wirklich etwas zu bewegen – nicht nur partikular für einzelne Gruppen, sondern volkswirtschaftlich gedacht, für alle. Man müsste natürlich neue Programme entwickeln, aber die Möglichkeit wäre da.
Annett Hänel: Sie kritisieren auch den Journalismus, der sich lieber auf 0,2 Prozent negatives Wirtschaftswachstum stürzt als auf 6,7 Prozent Geburtenrückgang.
Stefan: Ja, weil die Nachrichtenkriterien – Aktualität, Prominenz, Negativität – kurzfristig denken lassen. Der Geburtenrückgang ist die viel größere Nachricht für die Zukunft unserer Volkswirtschaft, aber der Zeitverzug beträgt 15-20 Jahre. Das passt nicht ins Schema. Journalisten schließen an ihre eigene Sehgewohnheit an, oft an eine Themen-Kaskade: Was im Deutschlandfunk morgens relevant war, greift das Morgenmagazin auf, das Mittagsmagazin referiert darauf und in den Abendnachrichten wird es dann finalisiert. Familienthemen fallen da oft raus, auch weil unklar ist, wen man dazu in Talkshows einladen soll – oft sind es eben keine prominenten Politiker, sondern Expertinnen ohne mediale Zugkraft. Paradoxerweise erleben Journalisten ja selbst Familie, schaffen es aber oft, diesen Teil ihres Lebens im Büro komplett auszublenden, wie in der Serie „Severance“.

Annett Hänel: Kommen wir zum Thema Gefühle. Sie schreiben, die öffentliche Debatte sei von kalten Begriffen wie Ehegattensplitting geprägt, während es doch um Liebe, Heimat, Geborgenheit ginge. Gleichzeitig kritisieren Sie die politische Instrumentalisierung von Gefühlen, etwa den Mythos der aufopferungsvollen Mutterliebe.
Stefan: Genau. Die Politik ist von Gefühlen dominiert, gesteht es sich aber nicht zu. Stattdessen flüchtet man sich in Pseudo-Objektivität, wie Merz beim Thema Stadtbild. Man könnte ehrlicher einen Gefühlsdiskurs führen. Wichtiger ist aber: Die Überbetonung von Gefühlen bei der Familie, insbesondere der angeblich natürlichen, biologisch verankerten Mutterliebe, dient dazu, die politische und ökonomische Verantwortung für Sorgearbeit abzuschieben. Chelsea Conaboy hat in „Mother Brain“ gezeigt: Es gibt keine biologische Festlegung, dass nur Mütter sich kümmern können. Es ist die soziale Struktur, die Zeit und Aufmerksamkeit, die Bindung schafft. Der Mythos der aufopferungsvollen Mutter wird politisch ausgebeutet, um Frauen Unterstützung zu verweigern. Die romantische Liebe und die Kernfamilie selbst sind historische Konstrukte, nicht älter als die Dampfmaschine, kulturell geformt durch Romane und gesellschaftliche Normen. Liebe ist wichtig, aber sie braucht einen geschützten Raum, und der muss finanziell und strukturell abgesichert sein, sonst bleibt er nicht stabil.
Annett Hänel: Sie zitieren das Anna-Karenina-Prinzip: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Was bedeutet das heute?
Stefan: Es bedeutet, dass unser Bild der „glücklichen“ Familie – Vater, Mutter, maximal drei Kinder – sehr eng ist. Alles, was davon abweicht, gilt schnell als „unglücklich“ oder problematisch: Alleinerziehende, Regenbogenfamilien, unerfüllter Kinderwunsch, Kinder, die den Anschluss verlieren (die „Neets“). Gerade diese „unglücklichen“, individuellen Fälle bräuchten gezielte Unterstützung, statt pauschaler Programme oder Verurteilung. Die Eins-zu-Eins-Betreuung für „Neets“ zeigt: Individuelle Lösungen sind teuer, aber sie funktionieren und zahlen sich volkswirtschaftlich aus. Der Staat müsste hier einspringen, wenn die „normale“ Familie ausfällt.
Annett Hänel: Aber warum der Staat? Kann das nicht privat organisiert werden?
Stefan: Wer sonst? Großeltern wohnen oft weit weg. Nachbarn, Lehrer, Freunde können das nicht dauerhaft leisten. Die Peergroup kann es nicht lösen. Der Staat hat die Mittel und die Verantwortung. Die eine Billion Euro Budget pro Jahr würde Familien Handlungsvermögen geben. Eine alleinerziehende Mutter könnte entscheiden: Mache ich die Care-Arbeit selbst und habe mehr Geld für den Urlaub, oder engagiere ich jemanden und kann arbeiten gehen, während mein Kind gut betreut ist? Es geht darum, Alternativen zu schaffen, wo heute oft alternativlos die Mutter einspringen muss, weil ihr das Geld und damit das Handlungsvermögen fehlt.
Annett Hänel: Aber widerspricht das nicht der Eigenverantwortung?
Stefan: Nein, es schafft erst die Voraussetzung dafür. Eigenverantwortung braucht Handlungsvermögen, und das braucht Ressourcen, oft Geld. Wenn eine Mutter aus Mangel an Alternativen handeln muss, ist das keine Eigenverantwortung, sondern Zwang. Mit Budget hätte sie echte Wahlmöglichkeiten.
Annett Hänel: Sie plädieren gegen politische Programme und für direkte Geldzahlungen. Warum?
Stefan: Weil Familien selbst am besten wissen, was sie brauchen. Studien zeigen, dass Geld nicht für Alkohol oder Elektronik „zweckentfremdet“ wird. Politische Programme hingegen erzeugen oft hohe Verwaltungskosten und bürokratische Hürden. Warum nicht einfach die vorhandenen Strukturen nutzen – Kindergeldnummer, IBAN – und das Geld direkt auszahlen? Das wäre effizienter und würde den Familien vertrauen. Dasselbe gilt für Schulen oder Kitas: Gebt ihnen Budget, sie wissen, was sie brauchen, statt ihnen detaillierte Vorgaben zu machen.
Annett Hänel: Letzte Frage: Sie scheuen sich vor politischen Diskussionen über diese Themen, fordern aber massive politische Eingriffe. Wie passt das zusammen?
Stefan: Weil die Art, wie wir politisch diskutieren, oft destruktiv ist. Wir haben es bei Migration, Staatsfinanzen und vielen anderen Themen gesehen: Diskussionen laufen oft auf Mobilisierung, Polarisierung und am Ende auf Hass hinaus, statt auf Lösungen. Wenn wir so über Familie reden, geht es schief. Menschen wissen, was sie wollen, sie haben Wünsche. Entweder die Gesellschaft schafft die Bedingungen, diese zu realisieren – und das kostet Geld in einer Marktwirtschaft – oder nicht. Eine endlose politische Debatte, die nur Feindbilder schafft, hilft niemandem. Lasst uns die Entscheidung für Marktwirtschaft und Demokratie ernst nehmen: Die Leistung der Familien anerkennen und alle Menschen an der Demokratie beteiligen. Bezahlt die Sorgearbeit und gebt allen eine Stimme.
(Bilderquelle: Christian Poloczek-Becher)


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