Stefan Schulz

Soziologe, Autor und Podcaster

Friedrich Merz’ drittes Scheitern

Friedrich Merz galt als rhetorisches Talent und wirtschaftspolitisch kompetent. Beides ist gefragt, beides war er nicht. Nun scheitert er auch als „AfD-Halbierer“. Nur als Wahlkämpfer taugt er noch, allerdings nicht mehr in seiner Sache. Der nächste Kanzler ist schon gescheitert.

Merz

Fragt man das Publikum, gibt es zwei Antworten. Ja, möglichst viel Wandel, aber bitte ohne Überraschungen. Wahlkämpfen heißt, beides zumindest anzubieten. Regieren heißt, beides tatsächlich zu liefern. Schwule Hochzeiten, Atomausstieg, Ende der Wehrpflicht – aber ohne dass es jemand merkt. Es gelang ja mal, bis der Streit begann, ob eine nicht geschlossene Grenze auch eine geöffnete ist und ob Viren auch dann töten, wenn man sie gar nicht sieht. Sie war Kanzlerin, aber sie konnte nicht zaubern.

Ostseezeitung

Die Ostseezeitung hat dieses Bild von Angela Merkel bei der ersten öffentlichen Lesung ihrer Memoiren in Stralsund gezeigt. Sieht man ihr Buch im Laden stehen, denkt man: Puh, dick – zum Glück muss ich es nicht lesen, ich kenne sie. Ihr ist geglückt, wonach Martin Walser zuletzt strebte. Angela Merkel wurde zum Buch. Ganz ruhig erklärt sie, wie man vom Trabi in den Regierungsflieger wechselt, ohne dass es zu Turbulenzen im Nahverkehr kommt. Merkel-Biograph Ralph Bollmann war daraufhin „leise enttäuscht“. „Sensationen finden sich in ihrem Buch keine“, schreibt Sabine Henkel für die ARD.

Davon, lesbar zu sein wie ein offenes Buch, ist Friedrich Merz noch immer weit entfernt. Was wir über ihn wissen, ist entweder antike Geschichte oder erzählte Legende. Niemand fühlt es, wenn Journalisten sagen, er sei – eigentlich – ein rhetorisches Talent. Oder wirtschaftspolitisch begabt, weil Blackrock. Was will er, außer seine Biografie komplettieren? Und was haben wir eigentlich damit zu tun? Er versucht sich durchzumogeln:

„Es gibt kaum ein Schlagwort, das in Reden von Friedrich Merz gerade häufiger vorkommt als ‚Politikwechsel‘. Nach einem Wahlsieg der Union müsse es in Deutschland einen deutlichen Politikwechsel geben, findet der CDU-Chef.“

Süddeutsche Zeitung

Ja, finden viele. Aber 53 Jahre Ochsentour, um der Kandidat für „Wechsel“ zu sein? Wer geht denn, auf der Suche nach neuesten Abenteuern, zu einem 69-jährigen Friedrich? Hier hilft man höchstens noch beim Wechsel der Straßenseite. Die Antwort auf die Frage, wie uns Friedrich Merz Wechsel verkaufen will, ist ausgerechnet „CDU pur“. Wahrscheinlich wurden die Plakate schon gedruckt: CDU. Aber pur. Dann fiel ihnen etwas auf.

Der CDU-Bundesvorstand hat sich vor einigen Tagen in Hamburg getroffen. Merz‘ oberster Wahlkämpfer Carsten Linnemann nahm die Aufgabe auf sich, uns Wähler über sein Programm zu informieren. Was auf der Webseite der Partei steht, ist Paradoxie pur.

Die CDU will „CDU pur machen“. Im ZDF betonte Linnemann: „Uns geht es um einen Politikwechsel. Und diesen Politikwechsel müssen wir umsetzen.“ Das Wahlprogramm spiegelt wider: „was würden wir umsetzen, wenn wir eine eigene Mehrheit bekommen.“ Koalitionsdebatten vor der Wahl „bringen nichts“, so Linnemann. „Wenn es den Politikwechsel nicht gibt, dann können wir auch nicht regieren. Und deshalb kommt es uns auf diesen Politikwechsel an. Die Agenda 2030 ist ein großes Paket, ein Plan für Deutschlands Zukunft.“
CDU.de

Das sieht aus wie politische Kommunikation, ist aber Teufels Küche. Szenarioplanung (sehr modern), aber mit nur einem Szenario (dumm), und dann noch dem unwahrscheinlichsten (peinlich). Politik ist ein Prozess zur Produktion von Entscheidungen, bei dem es durchaus drunter und drüber gehen darf. Allerdings ist der Prozess bereits das Produkt. Das Resultat ist ohne seine Revisionschance gar nicht denkbar. Geld hier, Geld da. Verbot, Gebot. Stadt, Land. Regierung, Opposition. Jede Medaille hat zwei Seiten, alle Bauernregeln gibt es doppelt, einmal so, einmal so.

Wenn Soziologen wie Klaus Japp und Isabel Kusche über „Die Kommunikation des politischen Systems: Zur Differenz von Herstellung und Darstellung im politischen System“ schreiben, ahnen wir schon: Sie gibt es gar nicht. Der Text ist von 2004, er gilt für die Jahrzehnte davor und seitdem. Wer als Kandidat etwas fordert, macht Politik; wer als Kanzler etwas unterlässt, auch. Alles Sichtbare ist Politik. Der Rest ist konkretes Verwaltungshandeln. Daran zu erkennen, dass sich wirklich niemand dafür interessiert.

Politik ist aber nicht Hollywood, wo man tüftelt und plant und am Ende läuft ein Film, egal ob noch jemand im Kino sitzt. Politik ist Theater. Auf der Bühne tobt das Leben – aber nur, wenn wir zuschauen. Zuschauen ist mitmachen. Ist niemand da, findet nichts statt. Sind alle da, ist es ein Spektakel. Anders als der Künstler lebt der Politiker allein vom Applaus.

Merz, der ständig zwischen Regie und Bühne wechselt, weil er gerne die Zügel in der Hand hält, aber den Beifall auch nicht verpassen möchte, sagte am Freitag:

„Wir werden nächste Woche in den Deutschen Bundestag Anträge einbringen, die ausschließlich unserer Überzeugung entsprechen.“

Tagesschau

Offenbar ist es eine verkündenswerte Neuerung, Politik aus Überzeugung zu machen. Diese Woche ist jedenfalls jetzt. Konnte er nicht noch ein paar Wochen warten, um mit seinen Überzeugungen Koalitionen zu verhandeln? Das Richtige tun, ohne auf die Demokratie warten zu wollen, ist kein Erfolgsrezept.

Ihm geht es um „Aschaffenburg“. Seine Arbeit sieht er nicht mehr darin, Mehrheiten zu organisieren. Er glaubt, die Mehrheiten seien schon da. Allerdings vermutet er sie nur dort, wo er sich nicht sicher sein kann: im für Politiker immer sagenumwobenen Volk.

In der demokratischen Repräsentation dieser Wählerschaft, im Bundestag, sieht er sie dagegen nicht. Weshalb er allen anderen Parteien noch einen Beipackzettel für seine Anträge mitgibt: „Und wir werden sie einbringen, unabhängig davon, wer ihnen zustimmt.“

Das ist, als würde der Hauptdarsteller nach seinem Bühnentod, während das Spiel für die anderen schon weitergeht, noch seine Requisiten zusammenpacken. Rucksack auf, Drehung ins Publikum: „Es tut mir leid, ich weiß, dass das Programmheft Ihnen einen stolzen, starken König versprach.“ Abgang.

Friedrich Merz ist Deutschlands Joe Biden, der auf der Bühne noch seine Familie begnadigt, sich kurz beim Publikum für die Unannehmlichkeiten seiner Figur entschuldigt und dann lächelnd dem Tyrannen den Schlüssel zum Rathaus übergibt.

Im Bild oben von der Tagesschau sieht man Merz auf der Bühne stehen und zaudern. Er muss uns seinen Gedankengang nicht mitteilen. Jeder, der ihn so stehen sieht, hört es schon tönen: „Ja, die AfD hatte recht.“ Abgang möglichst ohne Grußgeste.


Alle Texte als Podcast (ki-gelesen) und demnächst REDAKTIONSSCHLUSS als kommentiertes Hörbuch (von mir gelesen) gibt es bei Steady.


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