Das erste, was in Kriegen stirbt, ist bekanntlich die Wahrheit. Gespräche über Kriege fallen dadurch schwer. Wer über sie redet, führt sie immer auch ein bisschen. Nicht einmal der Spruch „Don’t mention the war“, ursprünglich aus einer britischen Comedy-Serie mit dem Episodentitel „The Germans“, diente als Schlussstrich. War ja eh anders gemeint. „In der Küche keine Politik“ ist auch nur als Kampfansage zu verstehen. Die einfachste Definition von Krieg ist daher: Krieg ist, was wir nicht wollen, nicht mal darüber reden.
Krieg ist damit schlicht das Gegenteil von Frieden und Wahrheit, aber dadurch: totale Wirklichkeit. Wenn Krieg ist, ist Krieg, ob man (darüber reden) will oder nicht. Worauf man sich noch gemeinsam verständigen kann, ist, wann sie begannen: 1. September 1939, 28. Juli 1914, 12. April 1861, Prager Fenstersturz, Helenas Entführung. Der Schweinekrieg zwischen Amerika und Großbritannien begann am 15. Juni 1859, als ein Bauer auf San Juan ein Schwein erschoss.

Ziemlich schlagfertig, Bauer Griffin. Es ging glimpflich aus, wir können darüber lachen, es starb nur das Schwein. Die Amerikaner schickten allerdings ein Infanterieregiment, die Briten mehrere Kriegsschiffe. Es standen sich 461 Amerikaner mit 14 Feldkanonen und 32 Marinegeschützen und 2140 britische Soldaten mit 70 Geschützen gegenüber. Niemand schoss. Der amerikanische Präsident schickte vermittelnde Briefe, die Soldaten blieben stationiert. Mehr als zehn Jahre später vermittelte der deutsche Kaiser Wilhelm I. in der Angelegenheit, die Insel San Juan fiel Amerika zu.
Das könnte demnächst wieder interessant werden. Der Oregon-Vertrag von 1846 regelt, dass die Insel zu Amerika, nicht zu Kanada gehört. Das war damals strittig, weil es zwei Wasserstraßen zwischen den Inseln gibt. Die Briten fuhren so rum, die Amerikaner fuhren andersrum. Mal sehen, wann Donald Trump davon hört. Die Grenze zwischen Amerika und Kanada ist etwa 2000 Kilometer lang schnurgerade (49. Breitengrad), bis sie bei San Juan komplizierte Haken schlägt und dann im Ozean endet.
War die Sache mit dem Schwein nun ein Krieg? Wird es noch einmal einer? Woran erkennen wir Krieg? Krieg ist, wenn wir neue Grundbegriffe lernen. Eskalationsdominanz zum Beispiel. Oder wenn wir Eskalationen im Diskurs erleben: 5000 Schutzhelme, 1000 Panzerfäuste, 500 Boden-Luft-Raketen, Fliegerfäuste, Gepard-Flugabwehrpanzer, Panzerhaubitzen, MARS II Raketenwerfer, Marder Schützenpanzer, Leopard-2 Kampfpanzer, Patriot, F-16-Kampfflugzeuge, bis hierhin. Das ist Krieg.
Putin hat ihn am 24. Februar 2022 begonnen, Menschen sterben bis heute, wann er endet, wissen wir nicht. Oder begann er doch schon 2014? Was hatte Putin noch einmal am 21. Februar 2022 gesagt, als er die „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine als russische Regionen anerkannte? Was hat er am 18. März 2014 in der Rede zur Annexion der Krim gesagt, was auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, was im Bundestag 2001? Wann ging das eigentlich los?

Und wann begann Donald Trumps Angriffskrieg gegen die Weltwirtschaft? Oder ist es gar kein Krieg, weil nirgendwo ein Panzer fährt? Fährt wirklich nirgendwo ein Panzer? Putin führt seinen Krieg gegen die Ukraine auch mit „nicht kinetischen Mitteln“ – Cyberangriffe, Sabotage, Desinformation – oder zumindest hybrid. Was unterstellten wir Donald Trump, dem Präsidenten, auch schon als Wahlkämpfer?
Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin, ist nicht mehr. Der Krieg kommt ja jetzt zu uns. Per Drohne, als Bauschaum im Auspuff, Nachricht in den Tagesthemen oder als Zollschranke, gestrichene Entwicklungshilfe, vogelfrei-begnadigte Paramilitärs. Ja, Menschen sterben, manche sind schon tot, es werden weitere sterben, viele werden flüchten. Ist ein Handels- und Wirtschaftskrieg überhaupt ein Krieg? Heike Buchter, Journalistin der Zeit, war heute Morgen im Politikpodcast ihrer Zeitung zu Gast und sprach dort über den Handelsbilanzdefizitkonflikt, der Amerika seit einer Weile mit der Welt verbindet: „Wenn du hier guckst, als hier die Industrie abgewandert ist, ich habe hier Landstriche gesehen, wenn du da durchfährst, da hast du gedacht, da ist Krieg gewesen.“
Wenn es aussieht wie ein Krieg, war es vielleicht einer. Vielleicht reicht es, dass es sich für die Beteiligten so anfühlt. Aber wann hat er begonnen? Donald Trump ist jetzt Präsident. Aber er hat ja auch schon vorher politische Reden gehalten, vielleicht nicht so, wie Putin, aber die amerikanische Sehgewohnheit ist uns ja nicht so fremd, dass wir das nicht einpreisen können: Heute sitzt man in Podcasts bei YouTube und plaudert. Trump saß damals in Talkshows im Fernsehen und plauderte. 1988 bei Oprah Winfrey:
Sein Wortlaut: „We let Japan come in and dump everything right into our markets. It’s not free trade. I want free trade, but I want it to be like, at least we break even, right? We do something.“ Wollte er Präsident werden, fragt sie ihn damals. Nö, sagt er. Aber: „If you pick me, you’re going to pick a winner.“ Nun, 36 Jahre später, haben wir den Salat, er ist der Gewinner und er entschied sich für den Krieg, von dem er damals schon sprach. Debatten darüber, wer ihn begann, wer ihn eskaliert, wie er enden könnte, sind müßig. Kriege müssen geführt werden. Frieden und Wahrheit gehen verloren, die Wirklichkeit bleibt.
Die Wirklichkeit ist, wir haben einen Wirtschaftskrieg. Wir können zwar hoffen, dass die Seewege künftig nicht freigeschossen werden, um die Milliarden von Shein- und Temu-Paketen, aber auch jegliche Haushaltselektronik in Amerika und Europa auszuliefern. Wir können auch hoffen, dass wir weiter an die elektrischen Gehirne in Amerika angeschlossen bleiben und nicht plötzlich auf chinesische Alternativen beschränkt sind oder – das Schlimmste – auf Europas neue KI-Forschungsfinanzierung warten müssen 😩.
Es kommt aber schon wieder darauf an, welche Routen die Schiffe (Lesehilfe: Chiffre [ˈʃɪfʁə]) fahren und welche Schweine wessen Kartoffeln fressen. Wo Grenzen sind und wo Kanonen stehen, ist wieder Gegenstand der Debatten. Wer einen Krieg nicht führen will, muss wenigstens diese Debatten führen! (Pointe: Die Debatten sind schon der Krieg.) Vielleicht wird nirgendwo geschossen, aber in der Bilanz wird man sich bald auch darüber verständigen, dass es aussieht, als wäre Krieg gewesen.
Positives gibt es trotz allem zu sagen. Auch wenn deutsche Journalisten derzeit noch glauben, irgendwo gebe es in Amerika einen letzten Vernünftigen, der in Trumps neuem Deep-State für sie ans Telefon geht. Who you gonna call? ist jetzt eine Frage ohne Antwort. Wir sehen aber dafür auch hierzulande schon keinen Lars Feld (Chiffre) mehr, der uns den Wirtschaftskrieg als Strukturwandel (специальная операция, ʃpeˌt͡si̯aːlʔopeˌʁaˈt͡si̯oːn) verkaufen möchte. Ein bisschen Wahrheit ist noch übrig.
Schreibe einen Kommentar