Ich habe Michel Friedman geliebt. Als er sein Buch „Fremd“ im Literaturhaus Frankfurt vorstellte, las Peter Schröder Auszüge. Das war so bewegend, dass wir im nächsten Frühling ins Schauspiel Frankfurt gingen, nur um Peter Schröder als König zu sehen. FREMD habe ich im Neue Zwanziger Salon besprochen, bei Jung & Naiv empfohlen und als eines der wenigen Bücher gedruckt zu Hause.
Sein Gespräch mit Mithu Sanyal im Jüdischen Museum war ein Highlight. Es ging um Liebe und nach etwa einer Stunde auch um Politik. Ihr fiel es leicht, anzumerken, dass mehr Liebe auch in der Politik, wo sie als Gegengewicht gebraucht würde, etwas Gutes sei. Die Leute stimmten zu. Doch Friedman widersprach: „Sie macht mir genauso Angst, weil ich von dir gelernt habe, vor einer Stunde ungefähr, dass Hass und Liebe eine gewisse Synonymisierung des Affektes und des Unkontrollierten sind. Die Antwort in der Politik ist nicht Gleichgültigkeit, aber Liebe, die enttäuscht wird im Politischen, ist katastrophal für eine Gesellschaft.“
Ich habe Michel Friedman in kleinen Kreisen erlebt, bei Abendveranstaltungen in Frankfurter Kanzleien, wo man sich Zeitungsredakteure einlädt, um über die Gefahr der AfD zu sprechen und man beklommen spürt, dass etwas zu viel Faszination mit im Raum ist, bis Friedman aufsteht, um zum Gespräch Anmerkungen zu machen, auch solche, die man von ihm auf den größeren Bühnen nicht kennt.
In meinem Buch „Die Kinderwüste“ (erscheint erst im März) zitiere ich aus Friedmans Gespräch mit der Psychoanalytikerin Katinka Schweizer. Es ging um Sexualität, also ein Thema, das uns alle und Michel Friedman auch als öffentliche Figur beschäftigt. Was aber nicht bedeutet, dass es ertragreiche Antworten gibt. Es lief nach vielen zähen Minuten ausbleibender Befriedigung auf folgende Frage an Schweizer als Anklage an den gesamten Wissenschaftsbetrieb hinaus:
„Entschuldigung, wozu war es dann nötig, dass man Sie so vorzüglich ausgebildet hat, dass Sie das jeden Tag durchdenken, erfahren, erleben mit Patientinnen in der Forschung?“
Wenn wir uns im Stich gelassen fühlen, wird es interessant. Niemand kann damit so gekonnt und hoffnungsstiftend vor Publikum umgehen wie Michel Friedman. Und so war meine Erwartung, zugegebenermaßen, zu hoch, als es hieß, dass Friedman mit Anne Brorhilker in der Oper Frankfurt über „Macht“ sprechen möchte. Brorhilker habe ich zuletzt beim 38C3 gesehen, mit mir im Saal waren 3000 Menschen, die alle dasselbe Anliegen hatten und dieselbe Erleichterung und Freude zeigten, dass sich endlich jemand dieser Sache annimmt.
Wenn ich doch weiß, dass mit Cum-Ex- und Cum-Cum-„Geschäften“ Milliarden Euro aus der Staatskasse geraubt wurden und werden, so richtig glauben kann ich das einfach nicht. Wie geht das? Warum macht das jemand? Kann es mir bitte jemand erklären!? Kann jemand was dagegen tun? Warum haben die beiden aussichtsreichen Kanzlerkandidaten, Friedrich Merz und Olaf Scholz, da ihre Finger mit im Spiel?
Brorhilker ist die Staatsanwältin, die diese Fälle federführend bearbeitet hat. Sie ist die Person, die die schwerwiegende Entscheidung traf, ihre Tätigkeit in der Staatsanwaltschaft aufzugeben, um für die Finanzwende – für die Sache zwar, aber nun gegen den Staat? – zu arbeiten. Kann man außerhalb des Staatsapparats wirklich mehr für den Staat erreichen, als in ihm?
Ausgerechnet mit ihr wollte Michel Friedman sprechen. Ausgerechnet in der Oper Frankfurt, die ein besonderes Publikum zieht. Ausgerechnet zur Premiere von Macbeth, der in Frankfurt nicht in Rüstung und auf dem Feld gezeigt wird, sondern als Richkid mit Kindergeburtstag in einer Wohnung mit sehr viel Geld für Design und sehr wenig Geschmack.
Wir saßen also gestern in der Oper. Anne Brorhilker wird uns nicht vorgestellt. Ihr Thema, Cum-Ex, wird nach einer halben Stunde ein einziges Mal nebensächlich erwähnt. Das Wort „Milliarden“ kommt in dem Gespräch nicht vor. Das Wort „Steuern“ fällt einmal, eher zufällig. Dass im Publikum mehrere hundert und auch auf der Bühne zwei ausgeraubte Steuerzahler saßen, schien egal zu sein.
Anne Brorhilker erzählt von ihrer Mutter, einer Politiklehrerin, die darunter litt, dass ihre Tochter kaum noch Politikunterricht bekam. Michel Friedman sagt dazu: „Wenden wir uns für einen Augenblick Machiavelli zu.“
Anne Brorhilker spricht darüber, wie Durchsuchungen der Staatsanwaltschaft ablaufen. Michel Friedman unterbricht sie, sagt spöttisch, dass ihre Staatsanwaltschaft „die beste aller“ sei und schließt an: „Der Historiker Jacob Burckhardt schreibt, die Macht, und damit meint er jede, ist an sich böse.“
Anne Brorhilker erzählt von ihren Erfahrungen in den Chefetagen der Banken. Sie traf dort auf Menschen, die nicht nur nicht wussten, wie ihnen angesichts der plötzlichen Polizeipräsenz geschieht, sondern die einen Dunstkreis aus Speichelleckern um sich scharten, deren vorrangige Aufgabe es war, sie von der Realität – und ihren juristischen Konsequenzen – abzuschotten. Friedman sagt dazu: „Was mich interessiert, ist, Montesquieu hat ja schon vor Jahrhunderten gesagt, eine ewige Erfahrung nennt er das, dass jedem Menschen, der Macht hat, mitgegeben ist, sie zu missbrauchen.“
Anne Brorhilker erzählt von ihrem „Horrorszenario“, wenn eine Staatsanwältin einen Chef bekommt, „der nicht mitzieht“. Michel Friedman sagt: „Der Schriftsteller Kurt Tucholsky dramatisierte das in der Schriftstellerei. Ich zitiere: ‚Es gibt nur Menschen, die herrschen und solche, die beherrscht werden.‘ Ist das zynisch oder wahr?“
Max Weber, der römische Dichter Lucan, viele Leute haben also viel zur Macht gesagt. Aber Anne Brorhilker ist jemand, der sie in für uns wichtigen Fällen nutzt und erlebt. Friedman war einfach desinteressiert. Wer Anne Brorhilker bei Logbuch Netzpolitik gehört hat, versteht, wie schwierig es ist, hier desinteressiert zu sein. Cum-Ex ist nicht schwer zu verstehen. Es betrifft uns alle. Wer Anne Brorhilker bei ihren Auftritten im Chaos-Umfeld auch nur fünf Minuten sieht, fragt sich, warum die Podcast-Charts nicht längst voll mit Cum-Ex True Crime sind. Gibt es hier etwa unsichtbare Mächte?
Macht spielt eine Rolle, wenn man als Oberstaatsanwältin den verlorenen Milliarden hinterherjagt. Friedman wollte von ihr wissen, ob sie das Spiel der Macht auch selbst mitspielte. Sie sagte: „Ich kann einen Trick verraten, der verdammt gut funktioniert hat. Ich habe gerne Vorurteile bedient. Und aufgrund meines Äußeren bin ich immer sehr schnell in eine Schublade geschoben worden. Und das hat hervorragend funktioniert.“ 30 Polizisten tauchen in der Vorstandsetage einer Bank auf. Alle 30 Männer werden per Handschlag begrüßt, nur die zierliche Frau wird übersehen – bis sie ihren „Dienstausweis auf den Tisch legt“.
Dieser Moment blieb gestern leider aus. Anne Brorhilker hat ihren alten Dienstausweis nicht mehr. Aber sie hat jetzt einen neuen und ich habe mir im Verlauf des Gesprächs gewünscht, dass sie ihn endlich zeigt. „Was mich interessiert, ist“ war die Lieblingsfloskel von Friedman gestern Abend. Anne Brorhilker hätte die Chance nutzen sollen: „Herr Friedman, dass sich Anwälte für etwas interessieren, ist schön und gut. Aber die Leute interessiert vielleicht auch etwas.“
Michel Friedman wollte über Macht, Moral und Manipulation sprechen. Aber an diesem Abend hätte man schlicht und einfach über Mathematik sprechen müssen. Das große Lebensthema von Michel Friedman hat viel mit Geschichte zu tun, aber eben auch mit der Gegenwart und Geld, ganz viel Geld. Geld ist wahre Macht.
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