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Zielorientierte Bürokratie mit Judith Muster und Stefan Kühl

Redet man vom Staat, ist man gleich beim Reformbedarf. Aktuell liegen neue Vorschläge hochkarätiger Autoren auf dem Tisch. Wir besprechen sie in soziologischer Runde mit Judith Muster und Stefan Kühl.

Wann ist eigentlich die beste Zeit für eine Reform der Staatsverwaltung? Als der Schirmherr der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat„, der Bundespräsident, im Herbst zur Auftaktveranstaltung einlud, war die Welt noch in Ordnung. Man konnte die Hoffnung haben, dass sich Olaf Scholz und Kamala Harris gut verstehen und sich die Gelegenheit ergibt, Freiraum für ein paar Reformen zu haben. Doch als die Veranstaltung zwei Wochen später stattfand, war klar: Die Wähler haben sich für Donald Trump entschieden und der Bundeskanzler gegen seinen Finanzminister. Umso drängender es schien, das Ruder nun herumzureißen, desto knapper schien der Spielraum noch gegeben.

Also drückten Thomas de Maizière, Peer Steinbrück, Julia Jäkel und Andreas Voßkuhle auf die Tube. Vor wenigen Tagen wurde die Präsentation eines Zwischenberichts anberaumt. Man wollte die Koalitionsverhandlungen nicht verpassen. Peer Steinbrück und Thomas de Maizière betonten bei der Vorstellung ihres Textes in der Bundespressekonferenz die übergeordnete Eile. Wenn es dieser Bundestag nicht mehr schaffe, sei die letzte Chance auf eine geordnete Staatsreform vertan. Diesen Text, zu dem sich bereits alle großen Zeitungsredaktionen verhalten haben und der von seinen Initiatoren auch in den Verhandlungsteams der derzeitigen Regierungsbildung vorgestellt wurde, besprechen wir heute.

Judith Muster ist Partnerin bei Metaplan. Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie in Bielefeld. Von beiden erschien schon einiges und demnächst: „Führung managen: Eine sehr kurze Einführung

Stefan Kühl ist mit Andreas Hermwille im Podcast „Der ganz formale Wahnsinn – was Organisationen zusammenhält“ zu hören.

Zu Gast im Podcast sind Judith Muster und Stefan Kühl, beide Soziologen. Wir reden über die positive Seite der Bürokratie, die sich dann auszahlt, wenn man genauer organisiert und die Eigenlogik der Verwaltung beachtet. Die Personalkultur, auf die sich die Autoren beziehen, spielt dann fast keine Rolle mehr. Wir reden über Hierarchien und Mitzeichnungsrechte, die Verwaltungen beim politischen Planen an den Abgrund der „negativen Koordination“ führen. In vorauseilender Unlust auf Streit bremst man sich häufig selbst schon aus. Wir reden darüber, wie man Prinzipien – beispielsweise Ansprüche vieler Bürger an wenige Beamte – wirkungsvoll absichert. Können Gesetze wie Trial-and-Error-Experimente konzipiert werden? Lässt sich „brauchbare Illegalität“ planvoll einsetzen?

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Während der Staat sich bislang mit Kleinigkeiten schwertut – Autos anmelden, Kinder unterstützen, Schulen sanieren –, stehen nun ganz große Ideen im Raum: Ein Ministerium für Digitalisierung, das gleichzeitig alle Personalentscheidungen überwacht. Der Bund soll jegliche Verantwortung für die Integration von Zugezogenen abgeben. Das größte Wahlkampfthema des letzten Wahlkampfs nur noch ein Thema für Bundesratsverfahren neueren Typs? Diesen großen Vorschlägen fehlt jedoch ein Fundament. Die Initiative macht sich viele Gedanken für bessere Politik. Aber wie reformfreudig sind Behörden und Verwaltungen, wenn es drauf ankommt? Am Ende machen wir selbst einen radikalen Vorschlag: Wie wäre es statt Schritt-für-Schritt-Drangsalierungen mit Dokumentations- und Berichtspflichten einfach mit Verboten? Weniger Bürokratie, mehr Freiheit und freie Zeit, dafür allerdings eine neue, alte Idee – der strafende Staat.

Kapitelmarken

00:00:00 Einleitung und Vorstellung der Gäste

  • Thematische Einführung: Reform des Staates
  • Aufzählungs-TextVorstellung der Gäste: Judith Muster und Stefan Kühl
  • Organisationssoziologischer Ansatz zur Staatsdiskussion

00:03:08 Definition des Staates aus soziologischer Perspektive

  • Was ist ein Staat? Verschiedene soziologische Betrachtungsweisen
  • Staat als Raum mit verbindlichen Regeln
  • Unterschied zwischen Staat als Organisation und Staat als Regelwerk

00:07:10 Gesetzgebungsverfahren und -verbesserung

  • Diskussion des offenen Referentenentwurfs
  • Negative Koordination bei Gesetzgebungsverfahren
  • Praxistauglichkeitstests und Beteiligungsverfahren
  • Problem der Mikrokoordination zwischen Ministerien

00:20:00 Experimentierklauseln und Abweichungskompetenzen

  • Idee der Experimentierklauseln in Gesetzen
  • Konzept der Abweichungskompetenzen
  • Brauchbare Illegalität und formalisierte Regelabweichung
  • Flexibilisierung des Verwaltungshandelns

00:26:39 Föderalismus und Aufgabenverteilung

  • Schnittstellenprobleme zwischen Bund, Ländern und Kommunen
  • Mischfinanzierungen und Zuständigkeitsfragen
  • Reform der föderalen Strukturen

00:38:23 Digitalisierung und neues Digitalministerium

  • Vorschlag eines Ministeriums für Digitales & Verwaltung
  • Kritische Betrachtung der Personalhoheit des neuen Ministeriums
  • Strukturprobleme der digitalen Transformation
  • KI-Einsatz in der Verwaltung und Technikoptimismus

00:59:42 Reform des Personalwesens in der Verwaltung

  • Personalkultur und Personalreform in Bundesbehörden
  • Identifikation der Mitarbeiter mit dem Bund
  • Beförderungspraxis und Quereinstiege
  • Kritik am Begriff „neue Personalkultur“

01:17:06 Migration und Sicherheit

  • Kritik an der Verknüpfung von Migration und Sicherheit
  • Neuordnung der Zuständigkeiten für Abschiebungen
  • Abgabe der Integrationsaufgaben an die Länder
  • Datenaustausch zwischen Sicherheitsbehörden

01:31:29 Wissenschaft und Forschungsförderung

  • Kritik am Drittmittelsystem
  • Strategische Rolle des Staates als Auftraggeber
  • Forschungstransfer und Innovationsförderung
  • Kommissionsarbeit und Reformvorschläge für Wissenschaft

01:45:12 Zusammenfassung und Ausblick

  • Vorschlag eines „Lobs des Verbots“ statt indirekter Steuerung
  • Kritische Gesamtbetrachtung der Initiative
  • Alternative Herangehensweisen an Staatsreform
  • Fazit zur Reformfähigkeit des Staates

Alle Texte als Podcast (ki-gelesen) und demnächst REDAKTIONSSCHLUSS als kommentiertes Hörbuch (von mir gelesen) gibt es bei Steady.


3 Antworten

  1. Hallo zusammen, vielen Dank für die interessante Besprechung dieses Textes aus organisationssoziologischer Perspektive. Mir sind beim hören zwei Gedanken gekommen. Ich habe einige Jahre in der Stadtforschung gearbeitet und bin jetzt in der Stadtentwicklung einer Kommunalverwaltung tätig. In meinem Arbeitsbereich ist die ämterübergreifende Zusammenarbeit bereits seit den 1990er Jahren Realität. Es hat sich der Grundbegriff integrierte Arbeitsweise herausgebildet und ist bspw. Voraussetzung für den Erhalt von Fördermitteln aus der Städtebauförderung.
    Zweitens würde der Begriff der Experimentierklsusel von der Community der Reallaborforschung über die Nähe zu den Grünen in den politischen Diskurs eingeführt. Erst über die Regierung in Baden-Württemberg und dann über die letzte Bundesregierung. Interessant finde ich, dass eine so kleine und junge Forschungscommunity derart diskursprägend agieren kann. Gerade im Vergleich zu meinem ersten Gedanken der integrierten Zusammenarbeit, der nie wirklich über die kommunale Ebene hinausgekommen ist.

  2. […] Schulz: Liebe Hörerinnen und liebe Hörer (Link zur Audioversion des Gesprächs), wir reden heute über den Staat und wie man ihn reformieren kann. Ein großes Wort. Der Staat […]

  3. Avatar von Peter Onderscheka
    Peter Onderscheka

    Sehr interessant euer Gespräch.

    Leider ist am interessantesten, wie „interessierte Laien“ oder anders formuliert „normale Wahlberechtigte“die Ideen von „Insidern“ interpretieren.

    Bitte nicht als Kritik oder Besserwisserei interpretieren. Vielmehr kann man an einigen Stellen gut nachvollziehen, dass die Papiere für andere Insider in einer spezifischen Fach-Sprache geschrieben sind und dass „Außenstehende“ von den Diskussionen damit fast ausgeschlossen werden.

    Besonders schön wird es deutlich beim Begriff „Abweichungskompetenz“, der eine spezifische Situation aus dem Gesetzgebungsverfahren regelt. Eure Worte dazu zu hören, eröffnet tiefe Einblicke darüber, wie viel und weit man aneinander vorbei redet.

    Nur dumm, dass der Staat nicht für den Staat da ist, sondern für die Bürger:innen (und Organisationen usw.)??? Und die Abgeordneten werden von den Wähler*innen nicht gewählt, weil sie die besten Soziologen oder Juristen oder Lehrer sind, sondern weil man ihnen vertraut.

    Viele Begründungen für die von euch geschilderten Symptome gehen letztendlich auf das Rechtsstaatsprinzip und die Gewaltenteilung zurück. Staatliche Macht greift notwendigerweise in Rechtspositionen von Menschen ein und man will alles dafür tun, dass das „gerecht“, ohne Willkür, nachvollziehbar etc. erfolgt. Dieser Versuch gelingt in unserer Welt aus Komplexität und Unwägbarkeiten und mitten in einer gesellschaftlichen Transformation offenbar immer weniger.

    In unserer Alltagswelt und im Privatrecht sehen wir auf dieses Thema mit einer anderen Perspektive und wenn wir mit diesem Blick auf den Staat schauen, bleibt oft nur ein Kopfschütteln übrig.

    Am Ende bleibt für mich v.a. die Erkenntnis, dass gute Kommunikation ein schwieriges Thema ist – leider nicht ganz neu, diese Erkenntnis 😉

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