Was steht in Ijoma Mangolds Zeitung?

Ein Podcast, der „Die sogenannte Gegenwart“ heißt, fragt nach Wahrheit und nimmt nur Kronzeugen ernst, die längst tot sind. Zur journalistischen Angst vor Wirklichkeit.

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Wozu eigentlich Podcasts, wenn man das schöne Medium doch nur wie Papier benutzt, statt sich die Hände schmutzig zu machen? Als Fan des neuen Radios höre ich fast alles, heute also wieder „Die sogenannte Gegenwart“ der ZEIT. Dieser Podcast hat gute Momente, weil er manchmal eine weibliche Stimme hat. Wenn Nina Pauer mal nicht dran ist, merkt man es gleich. Ijoma Mangold und Lars Weisbrod haben heute die Frage „Was ist Wahrheit?“ diskutiert. Man könnte meinen, wenn Journalisten von der Wahrheit sprechen, könnten sie über was Inhaltliches reden, vielleicht ja sogar über ein Thema. Denkste.

Ich fasse den heutigen Podcast kurz zusammen: Donald Trump lügt, er hat es immer getan, aber wir resignieren zunehmend darüber. Kellyanne Conway sprach damals von „alternative facts“. Sahra Wagenknecht wird immer besonders harten Faktenchecks unterzogen. Thomas de Maizière hat seinerzeit Aussagen über Flüchtlinge gemacht, die unscharf waren. Friedrich Merz sprach vom Stadtbild. Keiner weiß, was er sagen wollte. Cem Özdemir stimmt ihm aber zu. Colin Powell hat damals über Beweise für irakische Massenvernichtungswaffen gelogen. Greta kommt noch vor. Der Papst. Auch der aktivistische Satz, dass sich Wahrheiten der Klimaforschung keinem Mehrheitsvotum beugen.

Dann wird erinnert an Pontius Pilatus, der ja auch schon nach Wahrheit fragte. Jesus Christus, weil „Weg … Wahrheit … Leben“. Augustinus hat eine Wahrheitsrevolution angeführt. Weg vom rhetorischen Relativismus. Papst Benedikt war bis zuletzt erfreut darüber. Makrobius unterschied den Mut zur großen Rede von der Tugend der Faktentreue. Thomas Hobbes schöpfte die Wahrheit aus der Macht. Michel Foucault sah Wahrheit natürlich auch im Lichte der Macht. Friedrich Nietzsche sah Wahrheit als Metapher. Karl Popper? Falsifizierungsgebot. Bismarck verschaffte sich auch Freiheit von der Wahrheit, zumindest im Krieg, vor Wahlen und nach der Jagd. Mark Zuckerbergs Faktenchecks fehlt ständig Kontext. Nigira Al Sabah war die Kronzeugin der Brutkastenlüge. Nicht zu vergessen: Platon, Sokrates und ihr Streit gegen die sophistische Sonntagsrede.

So kann man einen Podcast füllen. In Minute 55 kam dann erstmals in dieser Diskussion über Wahrheit ein aktueller, inhaltlicher Verweis auf Wirklichkeit vor. Zumindest als Versuch. Ijoma Mangold sprach von Norbert Bolz, der aufgrund eigener öffentlicher Wortmeldungen Stress mit der Polizei hatte. „Der bekam ’ne Hausdurchsuchung, weil er…“ Zack, „Stopp!“ rief Lars Weisbrod. Schon musste aufgeklärt werden: „Hier sind jetzt nämlich schon die Faktenchecker, ja, die klugen Tiere der Faktenchecker auf den Plan getreten und haben jetzt alles an, ja das kann man sagen, Sophisterei, leider muss ich wirklich so formulieren, Rabulistik aufgeboten.“ Er habe nämlich gelesen, es sei gar keine Hausdurchsuchung gewesen, da Bolz schon an der Türschwelle kleinbeigegeben hatte und den Polizisten sein Smartphone übergab.

Es ist dramatisch und bescheuert genug. Aber der erste Versuch, das Gespräch über Wahrheit zu konkretisieren, misslang. Man lotste sich zielsicher von der Themen- gleich auf die Problemebene. Das war’s mit diesem Versuch. Aber es gab in den anderthalb Stunden Podcast zur Wahrheit noch einen zweiten Moment mit Wirklichkeitsbezug. Thomas de Maizière sagte also irgendwas zu Flüchtlingen, der Arbeitswelt und Ausländerkriminalität. Da kommt natürlich die Frage auf, was man über die relative Verteilung von Kriminalität in einer relativ jungen, männlichen Stichprobe sagen kann. Irgendwie kamen sie dann darauf, dass solche Leute im Niedriglohnsektor landen, es dort aber auch einen Mindestlohn gebe, da aber nicht mit nominalen Beträgen verargumentiert werden könne, was dann Ijoma Mangold zur doppelten Retourkutsche nutzte. Denn zum einen legte er dem links-rechts identitätsverwirrten Lars Weisbrod das Bonmot hin, die Schere zwischen arm und reich ginge in Deutschland gerade „wieder zusammen und nicht auseinander“ (hahaha). Zum anderen bezichtigte er auch sich selbst in diesem Moment „im politischen Stammtisch gelandet“ zu sein. Da sitzt Lars Weisbrod dann natürlich mit im Boot, wenn es der Kapitän so sieht.

Tja, einmal in der Uckermark das Fenster aufgemacht und Realität gesehen, gleich angewidert vom Geschäft der normalen Leute. Sowas kann man natürlich fast allen Leuten durchgehen lassen, aber nicht denjenigen, die noch Zeitung machen.

5 Antworten

  1. Vielleicht gefällt dir unser Zugang zur Wahrheit und der Frage danach, was man wissen kann, etwas besser. Wir bleiben theoretisch und suchen ganz und gar nicht nach irgendeiner objektiven Wahrheit. Welchen Einfluss die „wissenschaftlichen Wahrheiten“ auf politische Realität haben sollten, kommt auch vor.
    Hang zur Theorie muss man allerdings mitbringen.

    Quantum und Quale, Folge 3.

    1. Danke für den Hinweis, ich höre rein.

    2. Thx! Werde ich mir auch mal anhören.

    3. Hi Enrico, habe reingehört und es ist sympatisch. Da ich auf die Schnelle keinen anderen Kommentarbutton zu Eurer Folge fand, will ich hier fix loswerden: DPZ verbreitet/referiert eine herrliche kristalline Philosophiedefinition, nämlich „Philosophie ist die Praxis der Hinterfragung aller Voraussetzungen.“ Ich kenne keine präzisere Beschreibung. Vllt. inspiriert Euch das und ggf. andere starke Eknordnungen von DPZ für die Zukunft, als neue Ausgangslagen.

      DPZ = Daniel Pascal Zorn

  2. Danke für den Text, Stefan, ich höre die Zeitleute als Angstsonde um Teile meines typsichen Umfeldes besser nachzuvollziehen. Auf 2,2facher Geschwindigkeit sonst ist es einfach zu blöd.

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