Hundert, aber nicht alt

Donnerstag, 25. Oktober 2018, 16:37 Uhr

Hundert Jahre, ist das eigentlich alt? In Deutschland hat heute jeder Unterzehnjährige gute Chancen, sein hundertstes Lebensjahr zu erreichen. Also, ja, hundert ist alt, aber bald auch normal. In Japan, wo es heute 60.000 Hundertjährige gibt, plant man schon für sie die neue Gesellschaft. Mit weniger „Hektik und Gedränge“, das ist gut. Aber was ist mit der Freude im Alltag? In Japan altern inzwischen alle Regionen, außer Tokio. Das bedeutet auch, dass die Gesellschaft schrumpft. Japan hat seinen Bevölkerungspeak vor drei Jahren überschritten. In den nächsten dreißig Jahren fällt ein Viertel der Bevölkerung weg. Das ist nicht bloß ein Problem des Gesundheitssystems, sondern der Gesellschaft allgemein. Und Roboter sind keine Lösung.

Freedom II Andres

Ich schaue die Reportage „Im Reich der Hunderjährigen: Asiens alternde Gesellschaft„, die am 21. Oktober in 3Sat lief. Angesprochen habe ich außerdem den IAB-Kurzbericht über die Arbeit der Alten in Deutschland und die Podcasts Mikrodilettanten und die Freakshow. (automat. erstellt. Transkript)

Unterstütze mich!

15 Gedanken zu „Hundert, aber nicht alt“

  1. Ich musste schon beim Anfangen an etwas denken, dass ich im Studium gelesen habe: Der große Satiriker Jonthan Swift schrieb das dritte Buch von Gulliver’s Travels als Attacke gegen die sich aufschwingende Naturwissenschaft, die unter anderem davon träumt, das ewige Leben zu ermöglichen.

    Gulliver trifft auf der Insel Laputa auf Unsterbliche und ist total aus dem Häuschen, dass er mit so weisen Wesen kommunizieren kann, weil „was die alles wissen müssen!!“ und ist dann total konsterniert als er erfährt, dass die Unsterblichen ganz arme Wesen sind. Sie sterben nämlich nicht, aber altern. Unsterblichkeit ist nur cool, wenn es ewige Jugend ist. Den Punkt macht Swift der alte Katholik da.

  2. Ich arbeite in einem Berliner Bezirksamt und hatte kürzlich mit meinen Kollegen besprochen, warum auf der einen Seite die Stadt händeringend nach Bauland sucht, welches zuvor verscherbelt wurde, auf der anderen Seite aber der Platz der da wäre nicht genutzt wird. Nämlich der Platz nach oben. Ich bin in Frankfurt am Main aufgewachsen es erschließt sich für mich einfach nicht warum nicht mehr Hochhäuser gebaut werden. Die einhellige Meinung war, dass es ja das Stadtbild verschandeln würde. Aber wenn die tolle „Skyline“ von Berlin wichtiger ist als bezahlbarer Wohnraum, dann kann das Problem ja noch nicht so gravierend sein.

    Dabei hätte so ein Hochhaus viele Möglichkeiten. Unten vielleicht Kindertagesstätten, Seniorentreffs, Pflegedienste usw. Und oben bezahlbare Wohnungen für jung und alt. Das ganze Ding als Lebens und Begegnungsraum angelegt. Mit Jugendtreffs und kleinen Veranstaltungsräumen für Geburtstage.

    Mag sein das es auch Nachteile hätte, teure baukosten, Verwaltungsaufgaben, usw. Aber ich denke die Städte und der Stadt sind hier gefordert einen sozialen Lebensraum zu schaffen.

    Oder man überlässt die Leute halt sich selbst und der Vereinsamung.

  3. Das Konzept der Tagespflege für alte Menschen ist auch in Deutschland nicht unbekannt, auch wenn es vielleicht in einer gesellschaftlichen Nische stattfindet. Sie werden vielleicht nicht so als Club verkauft wie in Japan, aber strukturell folgen sie dem selben Ansatz: Sie bieten eine tägliche Tagesstruktur, vor allen Dingen unter der Woche, sind dadurch auf der einen Seite eine starke Entlastung für pflegende Angehörige – ins besondere von dementen Personen – und auf der anderen Seite Begegnungsort und Möglichkeit soziale Interaktion aufrecht zu erhalten. So fuhr beispielsweise die Mutter der zweiten Frau meines Vaters immer ganz begeistert wenn sie morgens von der Caritas abgeholt wurde. Dort wurde dann gemeinsam gegessen, gekocht, gespielt (vor allen Dingen Gedächtnistraining etc), gesungen – Und sie hatte einen gleichaltrigen Verehrer aus einem Nachbarort der sie umschmeichelt hat. Viele dieser Institutionen bieten beispielsweise auch Tanz-Tees und weitere Aktivitäten an.

    Solltest du auf der Suche nach weiteren Quellen und Forschenden auf dem Gebiet sein empfehle ich als Ausgangspunkt die Seite des Masterstudiengangs „Alternde Gesellschaften“ der TU Dortmund, hier wird die gesamte Thematik sowohl aus ökonomischen als auch politischen, soziologischen, psychologischen (…) Sichtweisen bearbeitet. Leider bin ich selbst seit einigen Jahren nicht mehr vor Ort und daher nicht auf dem neusten Stand, aber alle wichtigen Institute und so dürften verlinkt sein. https://www.fk12.tu-dortmund.de/cms/ISO/de/Studium/masterstudiengang_alternde_gesellschaften1/index.html

    Den einzigen Studiengang für Gerontologie in Deutschland bietet (meines Wissens) die Universität Vechta an, vielleicht magst du dich auch dort einmal umschauen: https://www.uni-vechta.de/gerontologie/home/

  4. FYI: Japan’s „Shinto“ als Gegengewicht gegen die Moderne und wie das Leben halt so ist, im neoliberalen Turbokaputalismus.

    Artikel ist nicht der beste[1], via reddit/philosophy.

    > People seek support from Shinto by praying at a home altar or by visiting shrines. A whole range of talismans are available at shrines for traffic safety, good health, success in business, safe childbirth, good exam performance and more.

    RE: Fleischkonsum in Asien/Japan
    Siehe das Buch „Blue Zones“ u.a..[1] In Japan, TRADITIONELL, wird sehr wenig Fleisch und Fisch gegessen. Aber auch dort ist der Fleischkonsum gestigen; „westernised.“ Besonders China.

    [1] https://iainews.iai.tv/articles/shinto-how-to-reconnect-with-nature-auid-1158 & https://www.reddit.com/r/philosophy/comments/9qzsif/how_adapting_the_philosophies_of_japanese_shinto/ & https://www.japan-guide.com/e/e2056.html & https://en.wikipedia.org/wiki/Shinto

    [2] https://nutritionfacts.org/2017/01/17/what-do-all-the-blue-zones-have-in-common/ & https://nutritionfacts.org/2015/11/12/where-are-the-lowest-rates-of-alzheimers-in-the-world/

  5. Japan — Alien(n)ation!?

    Derzeit kann man sich in der arte-Mediathek die fünfteilige Dokumentation „Unterwegs mit Gérard Depardieu“ anschauen.

    1. Fukui – Die Meister der Stille
    2. Kyoto – Die Spuren der Zeit
    3. Tokio – Die Faszination der Masse
    4. Hiroshima – Die Stadt des Friedens
    5. Okayama – Die Tradition des Handwerks

    Ich habe noch nicht alles angeschaut, aber bisher (1+2) ist es sehr interessant. Es handelt von Traditionen und Kultur. So wird bspw. erklärt, dass die ursprünglich indischen Riten Shintōismus und Zen-Buddhismus in Japan zu unterschiedlichen Zwecken verwendet werden. Shintōismus für freudige Ereignisse (Geburt, Hochzeit) und Zen-Buddhismus für traurige Anlässe (Begräbnisse).

    (Apropos Indien – nicht, dass wir uns sonst zu sehr auf Japan versteifen – das ist auch so ein seltsames Land, aber in fast allem Japan diametral gegenüber gestellt.)

    Viel Spaß.

    Herunterladen oder gucken mit A oder B:
    A) https://www.mediathekdirekt.de/
    B) https://mediathekview.de/

  6. Rentnerrepublik … die medizinischen Roboter (Da-Vinci) koennen nicht schnell genug kommen:

    > Surgery students ‚losing dexterity to stitch patients‘
    > Roger Kneebone, professor of surgical education at Imperial College, London, says young people have so little experience of craft skills that they struggle with anything practical.
    > „It is important and an increasingly urgent issue,“ says Prof Kneebone, who warns medical students might have high academic grades but cannot cut or sew.
    > „It is a concern of mine and my scientific colleagues that whereas in the past you could make the assumption that students would leave school able to do certain practical things – cutting things out, making things – that is no longer the case,“ says Prof Kneebone.

    https://www.bbc.co.uk/news/education-46019429
    https://de.wikipedia.org/wiki/Da-Vinci-Operationssystem

  7. Nachdem hier ja schon fleißig Artikel und Dokus gepostet wurden, hier noch ein Hinweis und eine Anekdote.

    Das Konzept des Mehrgenerationenhauses in genau diesem Sinne – Menschen leben nicht dort, sondern erarbeiten sich gemeinsam einen offenen Begegnungsort, dessen Gestaltung sich nicht wie ein Jugendzentrum über den Fokus auf eine Altersgruppe definiert, sondern über Interessen/Kultur/Bedürfnisse/Geselligkeit/Nachbarschaft und explizit mit dem Ziel, Alt und Jung zusammenzubringen – gibt es in Deutschland auch. Meine Frau ist Leiterin eines solchen Mehrgenerationenhauses, das sich seit etwa eineinhalb Jahren im Erdgeschoss eines Seniorenwohnhauses befindet. Das Ganze läuft über ein Programm des Bundesministeriums für Familien, Senioren etc. (https://www.mehrgenerationenhaeuser.de/programm/was-ist-das-bundesprogramm)
    Ob die Implementierung der gesetzten Ziele wirklich befriedigend funktioniert, ob das Programm ausreichend finanziert oder auch nur annähernd bekannt bei den Zielgruppen ist, kann ich nicht beantwortet (höchstens erahnen). Ich wollte es nur als Hinweis angeführt haben.

    Als zweites noch eine Anekdote, an die ich mich sofort erinnert fühlte, als du über die Frage nach der emotionalen Tiefe und der Unterscheidbarkeit zwischen menschlicher Interaktion und bildschirmvermittelter bei Kindern sprachst. (Auch diese Anekdoten hängt mit meiner Frau zusammen. Sie hört kein Talkradio, ist aber mit meinem Kommentar einverstanden; nur so als Disclaimer gegen mögliche Mansplaining-Vorwürfe oder so.)
    Meine Frau ist Chilenin, ihre gesamte Familie lebt dort. Als wir nach Deutschland zogen, war ihr Neffe ein Jahr alt. Es folgten drei Jahre, in denen die Kommunikation mit ihrem vom Baby zum Kind wachsenden Neffen lediglich über Skype/WahtsApp VideoCalls stattfand (eben aufgrund der räumlichen Entfernung). Der Neffe wuchs also mit einer Tante und mir als Onkel auf, die ausschließlich bildschirmvermittelt waren. Als wir dann kurz vor seinem vierten Geburtstag zu Besuch nach Chile flogen, sprengte das scheinbar alles für ihn Erklärbare. Weder reagierte er auf uns wie auf Fremde, noch wie auf Familie. Er stand einfach eingeschüchtert da, irgendwie begeistert und gleichzeitig verunsichert; wie ein Kind, das in Disney Land auf einmal einer lebendigen Mickey Mouse begegnet. Er kannte uns zwar (theoretisch) sehr gut, aber wir waren für ihn auf einer Ebene mit Zeichentrickfiguren aus dem Fernsehen, nämlich an den Bildschirm/das Smartphone gekoppelt: bildschirmvermittelt.
    Ich fand es damals selbst sehr spannend, das mitzuerleben und konnte dem Kleinen auch keinerlei Vorwurf machen. Da gewöhnt er sich möglicherweise gerade daran, dass Figuren wie Peppa Wutz nur im Fernsehen existieren und dann stehen seine zwei Bildschirm-Verwandten plötzlich doch vor ihm, scheinbar dem Medium entflohen. Nun ja, ich wollte hier kein zusätzliches Argument machen, das war eher ein biografischer/anekdotischer Einwurf, der mir beim Hören sofort in den Kopf schoss.

    So far, liebe Grüße

  8. Rentnerrepublik UK: Wer liest was? Und wer hoert nicht zu und guckt am Abend nicht die Nachrichten?

    60% der U30 lesen The Guardian
    20% der U30 lesen Daily Mail

    Und noch mehr[1] stats uebers Radio hoeren und Nachrichten gucken (A!). Wir kennen das Bild.

    Aber BBC arbeitet am „hoeren“ mit BBC Sounds[2]; BBC Radio und die Archievfunktion des Internets/und Apps werden verschmolzen. So gibt es jetzt eine offizielle app fuer alle Audioproduktionen der BBC, und auf der Website kann man nun auch Content subscriben.

    [1] https://www.theguardian.com/media/2018/oct/31/guardian-rated-most-trusted-newspaper-brand-in-uk-study
    [2] https://radiotoday.co.uk/2018/10/bbc-sounds-launched-at-london-event/

  9. Nachtrag „Eigentum in Gesellschaft“[1]

    Lewis Lapham (teilzeit Rentner) wird gefragt, ob wir in einer Demokratie leben. Seine Antwort: „Nein, nicht wirklich.“

    In diesen Interview (18 Minuten lang)[2] spricht auch er an, die Dialektik (11:25) zwischen einer demokratsichen Gesellschaft die „equality“ anstrebt, und Kapitalismus, als Gegenstrom.

    Und er kommt auch zum schluss, das Harvard Studenten (Ivy League) den groessten Schaden angerichtet haben (6:45), nicht Yale.

    Auch toller Fakt: das erste mal das „Rents“ und „Dividends“ mehr Einkommen erbrachten als Realloehne, war 1984 (12:34).

    FYI: Lewis Lapham re-publizierte sein Buch “Money and Class in America,” von 1988, neu, darum gibt es das Interview.

    [1] https://stefanschulz.com/talkradio/eigentum-vs-engagement/#comment-90 & Kapitel 10. https://stefanschulz.com/talkradio/wem-die-afd-ihr-angebot-macht/

    [2] https://www.youtube.com/watch?v=BM20eUDP6GE – Lewis Lapham: Can America Survive the Rule of a “Stupified Plutocracy”?

  10. Ich werde ins neue Jahr hinein nach Japan reisen. Mal sehen, was ich von der Rentnerrepublik zu Gesicht bekomme bzw. kann ich meine japanische Begleitung ausfragen.

    Was wir nicht unterschätzen sollten ist, dass Respekt vor den Alten viel tiefer verankert ist in der japanischen Gesellschaft. bzw noch? In Deutschland war dies doch Mal anders. In der Beschäftigung mit der 68er Generation ist von Wertewandel/Wertezerfall die Rede, wo Auflehnung gegen Eltern/Respektverlust mit drinnen steckt. Ob es diese Form der Auflehnung in Japan schon in der Vergangenheit gab, weiß ich nicht. Mit der zunehmenden „verwestlichung“ wird es wohl in den großen Städten vielleicht noch kommen.
    Ansonsten habe ich ich die Erfahrung gemacht, dass ein normaler japanischer Haushalt die Großeltern miteinschließt. Und auch die Kinder im Studentenalter bleiben im Elternhaus wohnen und nehmen jeden Tag zur Uni eine lange Zugfahrt auf sich (wobei der japanische Nahverkehr nicht vergleichbar ist mit unserer guten alten DB).

  11. Hallo Stefan,

    Ich habe bereits zwei Audikommentare für Aufwachen zum Thema eingesprochen (Jugend und Immigrationspolitik in Japan), und betreibe selbst einen kleinen Podcast-Blog über mein zweites Auslandsjahr in Japan.
    Japan in der Berichterstattung ist wirklich ein heikles Feld in der Berichterstattung, da die wenigsten gut genug Japanisch können, um tatsächlich mit den Leuten vor Ort zu sprechen und kein japanologisches Vorissen haben, weshalb es oft nicht über einen „am deutschen Wesen wird die Welt gelesen“-Ausblick endet (leider auch Frau Diener).
    Exotisierung ist ein weiteres Problem. Die Pornoindustrie ist hier zwar riesig und es gibt alles, aber wie groß „Gerontoporn“ wirklich ist, bezweifle ich. Dennoch werden in jeder zweiten Doku über Japan pornografische Inhalte ohne Notwendigkeit aufgegriffen. Ich erinnere mich an eine Doku mit dem Titel „Japans Jugend zwischen Geishas und Gameboys“, thematisiert wurden ausgerechnet pornografische Manga, die gar nicht an die jugendliche Zielgruppe gerichtet waren. Die fälschliche Sexualisierung von Geishas hat ebenfalls Tradition.

    Wie dem auch sei, ich lasse mal den Link zum meinem Japanpodcast hier.
    https://komdehagens.podcaster.de/resuemee-aus-tokyo/

  12. Übrigens, gerade habe ich das Buch „Japan – Abstieg in Würde“ zu lesen begonnen (bei Deutschlandfunk Andruck gibt es eine Kurzkritik). Der Titel deutete auf eine respektvolle Auseinandersetzung mit dem Thema, weshalb ich es mir direkt runtergelassen habe. Zur staatlichen Ehrung der älteren Mitbürger heißt es dort:

    „Alljährlich, zum Tag der Ehrung der Alten, den die Nation am dritten Montag im September als amtlichen Feiertag begeht, bekamen die über Hundertjährigen im Namen des Premiers Silberbecher überreicht. Doch inzwischen ist diese respektvolle Geste dem Staat zu teuer geworden. Im Jahr 2016 lebten bereits 65 692 über Hundertjährige in Japan […] Dieser Tage, wo die Jubilare zahlreicher und zahlreicher werden, sind die Becher, die sie geschenkt bekommen, nur noch versilbert.“

Schreibe einen Kommentar zu Anna-Katharina Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert