Trost, oder Tabubruch?

Dienstag, 11. September 2018, 13:20 Uhr

Geld ist gut. Für alle! Insbesondere für Erben. Aber was vererbt eigentlich, wer keins hat? Ich diskutiere heute, wie breit der Begriff „Erbe“ ausgelegt werden kann. Vielleicht lässt sich Angst nämlich noch viel besser vererben als Geld. Außerdem diskutieren wir die enge Verknüpfung von Demokratie und Wohlstand, denn das scheint eine deutsche Besonderheit zu sein, die wir zu selten hinterfragen. Das ein oder andere Selbstverständnis – beispielsweise das zur Selbstverwirklichung – diskutieren wir dabei gleich mit.

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Heute dreht sich alles um eure Kommentare. Meine restlichen Formatfragen und alles rund ums Bücherdrucken auf (fast) eigene Faust klären wir beim nächsten Mal. Dazu habe ich bereits Mails und Kommentare. Weitere Erfahrungen und Ratschläge zum self-publishing und print-on-demand sind mir aber herzlich willkommen. (Von Frieda korrigiertes Transkript)

12 Gedanken zu „Trost, oder Tabubruch?“

  1. Hallo Stefan,

    ich habe das große Glück zu den 1,5 Millionen zu gehören (Zumindest bald).
    Aber von vorne. Abitur habe ich 2016 mit einem 1, Schnitt absolviert. Habe dann gleich im Anschluss ein Mathe Studium begonnen. 5 Wochen später ist mir aufgefallen, dass ich völlig überfordert bin. Ich brach das Studium dann in Woche 7 ab. Danach war ich sehr verunsichert, was denn nun aus mir werden soll. Meine Eltern schwatzen mir ein Praktikum in der Industrie auf, obwohl das überhaupt nicht das war was ich wollte. Während dieser Zeit im Praktikum wurde ich 20 und an diesem Tag offenbarte mir mein Opa, dass er seit den Siebzigern an der Börse aktiv war und dort ein sieben stelliges Vermögen erlangte. Mit dieser Nachricht änderte sich mein Leben abrupt. All der Stress, den ich während der Schulzeit und in diesem Praktikum hatte war auf einmal weg. Eine 40 qm Wohnung in der Innenstadt wurde mir ebenfalls finanziert. Im folgenden Wintersemester begann ich dann das Studium der Physik. Dabei geht es mir jetzt allerdings nicht mehr um die, mit Studiengang verbundenen wirtschaftlichen Aussichten, sondern einfach um meine persönlichen Interessen (Ich interessiere mich schon seit dem ich ein Kind war für Astronomie). Dort saß ich dann also wieder in den selben Mathevorlesungen, an denen ich im Jahr zuvor verzweifelt bin, und es lief auf einmal. Ich schnitt in allen Klausuren überdurchschnittlich gut ab. Nun bin ich in diesem einen Jahr natürlich nicht enorm viel klüger geworden, sondern mein Erfolg liegt einfach darin begründet, dass ich mit einer ganz anderen Einstellung an die Sache ran gehen kann. Nach dem Motto: Wenns nichts wird, dann ist auch nicht schlimm. Kurz gesagt: Seit dem ich weiß, dass meine Biographie, im wirtschaftlichen Sinne, gesichert ist, bin ich ein anderer Mensch geworden. Seit dem hat auch erst mein Interesse an Politik begonnen, weil einfach zeitliche Kapazitäten da waren. (Ich bin übrigens auch für eine funktionierende Erbschaftsteuer, denn selbst wenn ich 25% des Erbes abtreten muss, bin ich immer noch bestens versorgt.) So viel zum Thema Stress.
    Zu einer andern Sache die du erwähnt hast, möchte ich auch noch etwas sagen. Nähmlich das Thema Geheimhaltung. Ich habe auch noch niemandem im Freundeskreis von meinem Glück erzählt. Es fällt einem einfach schwer zu hören, welche Probleme andere haben und dann zu sagen: „Ja ja versteh ich schon, betrifft mich aber nicht, weil mein Opa reich ist.“ Also bin ich lieber still, nicke und schäme mich innerlich fast schon für mein Glück. Es fühlt sich einfach falsch an. So als wäre ich ein Auserwählter, aber das bin ich nicht. Ich hatte nur Glück, dass ich als Kind in eine Verwandschaft mit einem der 1,5 Millionen hinein geboren wurde.

    1. Dein schlechtes Gewissen ist zum einen unbegründet (da du offensichtlich nichts dafür kannst, dass sich unser Staat immer mehr hin zu einer Oligarchie entwickelt), zum anderen sinnlos. Du scheinst ein anständiger Kerl zu sein und du hast die Chance, sehr viel Gutes zu bewegen in dieser ungerechten Welt. Mach was daraus.

  2. Zuerst eine kleine Randbemerkung zu den Subkulturen: Gestern erst wieder auf dem Twitter-Profil eines Joko&Klaas-Fangirls gelandet… Wir schauen meist nur auf die Teenies, die sich Heidi Klum oder Gronkh wahlweise als Idol oder als besten imaginären Freund auserkoren haben. Eine Altersklasse drüber lassen sich aber schon die gleichen Phänomene beobachten – kulturelle Neotenie lässt grüßen. 😉
    Prozentual vielleicht nicht in demselben Ausmaß, sollte man den Einfluss der Böhmermänner unserer Rentnerrepublik trotzdem nicht außer Acht lassen. Fandom gab es quasi schon immer; durch Instagram & Co. können Sender und Empfänger heute allerdings einen Dauerbeschallungsapparat installieren, den ich aus meiner eigenen Jugend nicht mehr kenne.

    Dazu noch eine triviale Formatfrage: Wie willst du mit dem ganzen Ideen-Input durch Kommentare, E-Mails usw. in deinem Buch umgehen? Zitieren ist ja kaum möglich („User Harald hat geschrieben…“), Ideenklau nicht besonders nett. Wird es daher auf eine Danksagung am Ende des Buches hinauslaufen? Logischerweise wird durch so ein Projekt weder die eine Seite ärmer, noch die andere viel reicher – außer das Buch wird ein Bestseller. ^^

    LG
    Sebastian

  3. Hallo Stefan,

    In den letzten Jahren habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Thema Stress in Gesprächen mit Freunden, aber auch in einfachem Small-Talk immer wieder als unverfänglichstes Thema, noch vor dem „Was machst du überhaupt?“, aufkommt. Oft ist es völlig unerheblich was der Gesprächspartner studiert oder sonst so im Leben macht, die erste Gemeinsamkeit scheint immer zu sein: „Ja, ich bin auch voll im Stress“.

    Ich bin 25, verheiratet, habe einen Sohn und im Grunde ein sehr glücklicher Mensch. Meine bisheriger Ausbildungs-Werdegang ist bis hierhin alles andere als optimal verlaufen (im Sinne der biographischen Optimierung). Nach 2 Jahren im Ausland, einem abgebrochen Studium und einer Ausbildung bin ich nun wieder im Studium als verheirateter Ersti. (Ich schreibe diese kurze Episode über mich nur, damit der Kontext verstanden werden kann.)

    Nun habe ich recht viel zu tun mit Familie, Job und Uni und habe an mir selbst bemerkt, dass ich oft sage, dass viel los ist usw. usw.. Mich hat das irgendwann dann auch aktiv beeinflusst und ich wurde subjektiv noch gestresster und unausgeglichener. Als ich mir dann vor ein paar Monaten vorgenommen habe mit Freunden oder anderen nicht mehr in den Vordergrund zu stellen wie stressig mein Leben sein kann, habe ich gemerkt, dass das nicht so einfach ist wie ich es mir vorgestellt habe. Auch wenn ich aktiv versuche nicht über Stress zu reden, kommt oft die Nachfrage: „aber mit Kind im Studium ist es schon stressig, oder?“, solange bis ich sage: „Ja, schon stressig“.

    Mein Punkt ist: Da alle Jugendlichen (auch Erwachsene) Stress in ihren Leben haben, ist dies oft auch der kleinste gemeinsame Nenner bei Gesprächen, der paradoxerweise auch noch sehr unpersönlich und unverfänglich ist obwohl es eigentlich unsere tiefsten Gefühle betrifft. Zusätzlich scheint ein stressiges Leben eine Art Trophäe zu sein, die wir durch den Druck zur biographischen Selbstoptimierung mit uns herumtragen, und ob mit oder ohne Nachfrage jedem unter die Nase reiben.

    PS: Ich bin übrigens sehr froh darüber, dass mein Werdegang bis jetzt so zerstückelt und uneinheitlich ist. Die Erfahrungen und die Lektionen die ich gelernt habe, würde ich niemals für ein Master mit 23 Jahren tauschen wollen.

    Liebe Grüße
    Sönke

  4. Hallo Stefan,

    danke für das neue, sehr gelungene Format.

    Ein Kommentar zur Rendite bei kleinen und großen Vermögen:
    Es geht beim Unterschied zwischen kleinen und großen Vermögen nicht so sehr um die Möglichkeiten das Geld anzulegen, sondern eher um die prozentuale Rendite und vor allem auch die Finanzbildung. Ich schaffe es mit ostdeutschem Arbeiterhintergrund auch über 5% Rendite im Jahr mit Aktienfonds zu erzielen. Dafür musste ich aber Finanzbildung erwerben, die in wohlhabenden Haushalten wahrscheinlich eher vorhanden ist als in ärmeren.
    Und natürlich kann ich nicht davon leben, denn 5% von gesparten 10000 Euro reichen eben nicht dazu. Ich vermute das „Bildungserbe“ hat statistisch einen verstärkenden Effekt auf das Vermögen.

    Vielen Dank und viele Grüße

    Franz

  5. RE: „Meine Generation hat keine Kraft“ – Christine @ 52:00

    Das Rebuttal dazu (‚in die Kiste voller Kabeln greifen und aussortieren‘) kommt von Byung-Chul Han’s Müdigkeitsgesellschaft[1] und Selbstausbeutung[2] (quasi persoenlicher #earthovershootday)

    Leider nicht oft genug genannt/referiert/darauf verwiesen im Aufwachen! Forum.

    [1] https://www.amazon.de/Müdigkeitsgesellschaft-Burnoutgesellschaft-Hoch-Zeit-Fröhliche-Wissenschaft/dp/3957572746/
    [2] https://www.amazon.de/Psychopolitik-Neoliberalismus-die-neuen-Machttechniken/dp/3100022033/ & https://www.youtube.com/watch?v=jxwp36PE73A

  6. Moin Stefan,

    zunächst danke für das spannende Projekt und den Podcast. Ich bin gespannt, was aus dem Ansatz werden wird.

    Ich wollte kurz Bezug nehmen auf den Kommentar von Harald und Teile deiner Argumentation, so wie ich sie verstanden habe. Mir scheint, das Argument lautet: Viele Menschen im Osten wurden vom Staat enttäuscht und agieren nun ihre enttäuschten Erwartungen auf der Straße aus (und geben sie an die nächste Generation weiter).

    Darauf, dass dieser Zusammenhang auf der anderen Seite ein Gegenstück haben könnte, weist ein Artikel in der aktuellen KZfSS hin (https://link.springer.com/article/10.1007/s11577-018-0542-x) Dort wird argumentiert, dass jene, die in den Nachkriegsjahren auf breiter Front Wohlstandsgewinne verbuchen konnten gerade dadurch marktaffiner wurden, sich vom (Sozial-)Staat „entfremdeten“ und ihrerseits aktiv eine „wirtschaftliche Liberalisierung und Prozesse der Finanzialisierung“ vorantreiben. Nur, dass sie nicht auf die Straße gehen, sondern im Stillen auf private Bildungsinvestitionen, Kapitalbesitz und private Vorsorge umstellen. Die folgende Generation (im Westen) könnte (neben dem angehäuften Vermögen) also eine eigene Form von Staatsskepsis erben.

    Ich will auch noch auf ein Buch hinweisen, das gut zu deinem Interesse zu passen scheint und aus meiner Sicht auch anekdotisch-biographisch, bzw. mit „gefühlter Empirie“ arbeiten: Koppetsch, Cornelia (2015): Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte.

    Grüße,
    Stefan

  7. tach jesagt.

    zu der dame bei Minute 45, die ihre Kommilitonen als verantwortungslos bezeichnet, möchte ich mich kurz äußern.

    ich treffe gerade in meiner Ausbildung zum „agile coach“ auf viele frisch fertig gewordene Studenten, mit denen ich manche Kurse Teile. Fachschwerpunkte sind, bwl, Soziologie, vwl, physik, mit dabei sind auch Doktoranden,…

    alles tolle Menschen. ehrlich. gleichzeitig ist es für mich chancenlos mit ihnen zusammen zu arbeiten.

    jeder für sich Arbeit höchst effizient. aber eben alleine. die sind top in der Selbstorganisation.

    sobald sie mit anderen gemeinsam im team, sich selbst und die abzuleistende arbeit organisieren müssen und die Verantwortung nicht nur für ihren Teil in der Gruppe sondern eben auch die Verantwortung für das Ergebnis der Gruppe tragen müssen, geht nichts mehr. allein schon das gemeinsame zusammen sein im Kreis, ohne Laptop, schwierig.

    ich kann mehr dazu schreiben bei Bedarf, gerade stehe ich vor Getränke Hoffmann und frauchen macht schon Druck.

    ich grüße euch alle.

    Philipp

  8. Lieber Stefan, (nachdem du jetzt ca. 3 Jahre zweimal die Woche durch meine Wohnung tönst, sei mir diese vertrauliche Anrede gestattet ;))
    Wenn es hier die Möglichkeit der Sprachnachricht gäbe, hätte ich dich schon nach jeder Folge mit meinen Gedanken zugeschüttet,.. mach´doch einfach technisch das möglich, was du am liebsten durcharbeiten möchtest… 😉
    So, du hast es herausgefordert, deshalb schütte ich jetzt meine Gedanken und Fragen hier aus:
    Die Idee, dass die Menschen „im Westen“ durch das Wirtschaftswunder demokratisiert worden seien, schien mir auf dem ersten Blick plausibel – wieso tauchen dann aber jetzt so viele (wohlhabende) Nachkommen aus Familien ehem. Nazi- Größen wieder in AfD Kreisen auf? Bsp.: Frau von Storch, Großvater Reichsfinanzminister von 1932 bis 45/ in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt; ihr Ehemann Sven von Storch stammt aus einer Familie mecklenburgischer Landadeligen, die 1945 nach Chile (!) flüchtete und dort wieder zu ländlichem Wohlstand kam… Was die Mehrheit der Bevölkerung angeht, hänge ich eher der Mann´schen These vom deutschen Untertanengeist an – es wird sich angepasst, egal wie die Verhältnisse sind… Wobei ich einzelnen Menschen nicht die (innerfamiliere) Aufarbeitung ihrer Schuld und damit verbundenen Demokratisierungsprozessen absprechen will (siehe auch 68ger). Ist es nicht bezeichnent, dass die allermeisten (West)Deutschen von Auschwitz erst im Zuge der Auschwitzprozesse (1964 bis 68) erfahren haben wollen? (Empfehlenswert dazu der Spielfilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“) Das bringt mich zum Thema Selbstmord… 1945ff rollte eine Selbstmordwelle durch D (Motive Angst, Schande, dem Führer folgen etc.) Während wir heute in unserem Kulturkreis Selbstmord eher mit Feigheit und Verzweiflung & Flucht assoziieren, stand er auch hier früher (18./19. Jhdt.) für Ehrenrettung, Verantwortung übernehmen, Familie rein waschen (im Sinne von Schuld befreien). Im Mittelalter wurde ein überschuldeter Kaufmann zum Tode verurteilt, um seinen Gläubigern Genugtuung zu verschaffen und seine Schuld zu begleichen (du zahlst mit deinem Leben). Im asiatischen Kulturkreis steht Selbstmord eben gerade nicht für Narzissmus, sondern genau umgekehrt für immer noch vorhandenen Kollektivismus: Der Einzelne als kleinster Baustein der Gesellschaft soll zuallererst zum Wohl der Gemeinschaft handeln, Verantwortung für sein Handeln trägt seine gesamte Familie… deshalb: die Ehre (Funktionieren) des Einzelnen ist die Ehre der Familie und die Ehre der Familie ist Teil der Ehre der Nation (Vaterland) und des Kaisers. Nicht umsonst erregt es in Japan des 21. Jhdt. noch soviel Aufregung, wenn der Tenno mit seinen 98 (?) oder so Jahren verkündet, nicht mehr öffentlich auftreten zu können…
    Ok., zurück ins Jetzt: Warum benimmt sich „der Ossi“ in Chemnitz und anderswo so, wie er sich benimmt? Ich war genau wie du begeistet von Thierse bei Anne Will – u.a. zu hohe Erwartungen in Politik (Obrigkeitshörigkeit, allerdings halte ich aus das für ein gesamtdeutsches Phänomen/ Thomas Mann „Der Untertan“)…
    Weil ich das Thema zu komplex finde und mich „die Sorgen“ dieser Menschen ernsthaft nur noch ankotzen, zitiere ich hier mal meine Oma: „Das ist einfach nur Dummheit, schlechtes Benehmen und Boshaftigkeit“…
    Jetzt noch Bemerkungen zur persönlichen Lebensgestaltung (du hast es herausgefordert ;)):
    Ich bin 52, im Osten (Halle/ Leipzig) sozialisiert. Bis 1989 habe ich einen Abschluss als Handwerksmeister (Buchbinder) und einen Abschluss als Ingenieur (Verfahrenstechnik) absolviert.
    Mit 21 habe ich einen Sohn bekommen, der heute 31 (und Handwerker ;)) ist. Nach ´89 habe ich berufsbegleitend BWL studiert, andere Themen hätten mich mehr interessiert, konnte ich mit Mitte 30 und Kind nicht mehr finanzieren…
    Keinen dieser erworbenen Berufsabschlüsse „verwerte“ ich heute noch. Eigendlich habe ich bis ca. Mitte 40 immer das gemacht, was mir „vor die Füße“ gefallen ist und was aus finanziellen Gründen für mich und mein Kind notwendig war. Noch mal meine Oma: „Kind, wenn du ganz viel Glück hast, besteht das Leben aus 95% Pflicht und 5% Kür“ 😉
    Mein Sohn ist seit ca. 5 Jahren wirtschaftlich unabhängig von mir (seit er ca. 10 war, haben wir miteinander alleine gelebt). Jetzt bin ich nur noch für mich verantwortlich und befinde mich auf einer anderen geistigen Stufe als mit Mitte 20.
    Ich glaube, die von Außen gegebenen Pflichten in meinen jungen Jahren haben mir (neben dem in meinem Elternhaus Erlernten) geholfen, ein stabiles inneres Selbst zu entwickeln, ich kenne jetzt meine Stärken und Schwächen, habe einen gewissen Selbstwert entwickelt, der mich (soweit möglich) unabhängig von den Außenbewertungen macht. Jetzt, wo ich das formuliere wird mir klar, dass ich meine Biographie gelungen finde.
    Ich verfüge über keine nennenwerten finanziellen Mittel. Nehme mir jetzt die Freiheit, freiberuflich gegen Geld nur noch für Projekte zu arbeiten, die ich inhaltlich mittragen kann. Zum (über)leben benötige ich so wenig Geld, das noch genügend Zeit bleibt mich mit Dingen zu beschäftigen, die mich wirklich interessieren und die ich wichtig & interessant finde…
    Also was ich sagen will ist: Sich mit 20 Jahren planmäßig „selbstverwirklichen“ zu wollen/ können, halte ich für Quatsch. Welches „Selbst“ soll denn da „verwirklicht“ werden?
    Ein „Selbst“ entwickelt man im Laufe seines Lebens, das hört auch nicht auf, dieses „Selbst“ ist permanent wandelbar, verändert sich durch die Lebensphasen hindurch… Ich sehe da auch keine Stufenleiter, wie Generationen vor uns, sondern eher einen Fluss… Die Kunst des Lebens besteht für mich darin, immer wieder das jeweils angemessen Maß zu finden: was ist notwendig/ erforderlich zu tun (im Außen) , dies abzugleichen mit den inneren (seelisch/ körperlichen) Bedürfnissen und dabei Freude/ Zufriedenheit zu finden. Nützliche Werkzeuge dafür sind für mich: oft einfach nur erst mal machen (!) im Sinne von ausprobieren, Erfahrungen sammeln, lernen, sich selbst und andere in diesem Tun zu erleben, dann nachdenken (reflektieren), abgleichen, verändern, wieder probieren.
    Dabei auch mal was aushalten, durchhalten (Selbstdisziplien) um keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen, manchmal aber auch etwas sofort hinzuschmeißen… eben das persönlich „gute Maß“ zu finden…
    Stefan, wie du mal so schön gesagt hast: werdet doch einfach alle mal Handwerker… 😉 Für mich spielt die Außenbewertung heute kaum mehr eine Rolle, nach meinem jetzigen Erkenntnissstand ist es eigendlich egal, was ich tue – Hauptsache ich tue es nach meinen Maßstäben ordentlich und kann es inhaltlich verantworten/ mittragen. Alles andere, z.B. die finanziellen Erfordernisse lösen sich eigendlich immer (noch) hier in Mitteleuropa. Oder wie meine Oma sagen würde: „Kind, das findet sich…“ 😉
    Abschließend noch: Eltern, die mit ihren Kindern befreundet sein wollen, sind m.E. selbst auf einer infantilen Entwicklungsstufe hängengeblieben, und scheuen sich vor „erwachsener“ Verantwortung. „Befreundet“ kann man nur mit Menschen sein, die sich mit einem selbst auf einer ähnlichen Entwicklungsstufe befinden. Den Begriff „Erziehung“ lehne ich genauso ab: Man lebt zusammen und gestaltet Beziehung und dies entsprechend den Erfordernissen der jeweiligen Entwicklungsstufe des Kindes. Dabei verändert sich die Beziehung permanent, wie sich ja auch die Beteiligten ständig entwickeln. Hier kommt auch wieder das Selbst(ständig) ins Spiel… 😉
    Natürlich entstehen Prägungen (VorBild) der unterschiedlichsten Art. Und so wie sich die Eltern vielleicht in einem permanenten Prozess des Loslassens befinden (Geburt des Kindes bis…) befinden sich die Kinder vielleicht in einem immer währenden Prozeß des Selbst(findens/ entdeckens/ entwickelns)…
    Die Eltern/ Kind Beziehung würde ich in 3 große Zyklen einteilen:
    Erste Phase Kind abhängig von Eltern (zuerst in allen und dann immer weniger werdenden Belangen). Zweite Phase relative Gleichwertigkeit (hier gleichen sich die unterschiedlichen Stärken/ Schwächen möglicherweise aus) In der dritten und letzten Phase sind die „Kräfteverhältnisse“ dann möglicherweise genau umgekehrt zur ersten Phase…
    Den Versuch, mit meinem „Kind“ eine gesunde, bereichernde, entspannte und auch humorvolle Beziehung gestalten, war und ist für mich eine Bereicherung meines Lebens, die ich nicht missen möchte.
    Ok. & Schluss jetzt…
    Stefan, danke! Deine (eure) Projekte sind mir wichtig, weil sie mir immer wieder Gedankenfutter liefern, inspirieren, relativieren… Das ist gut für Deutschland und speziell deine Herangehensweise an die Dinge sind besonders in letzter Zeit sehr gut für meine Psychohygiene… 🙂
    p.S.: In meiner Herkunftsfamilie wurde noch nie materieller Wohlstand vererbt. Jeder war (finanziell) immer für sich selbst verantwortlich. Dies empfinde ich als große Freiheit, denn deshalb beruht alle Beziehung, die wir miteinander pflegen auf (materiell) unabhängigen Entscheidungen des Einzelnen.
    Die Erinnerung an die „Lebensweisheiten“ meiner Oma bringen mich jedoch noch heute immer wieder zum Nachdenken und zum Lachen. Deshalb soll ihr das letzte Wort gebühren:
    „Wer nichts erheiratet und nichts ererbt, der bleibt arm, bis das er sterbt.“ Na, zumindest was das Materielle betrifft, muss ich ihr da 100% zustimmen 😉

  9. Hallo Stefan,

    ich wollte auch noch einen kleinen Kommentar zum Thema Engagement hinterlassen. ich bin Amelie und mittlerweile Studentin im 5. Semester.

    Ich habe das Gefühl, vor allem auch bei mir persönlich, dass es für die Studenten von heute gar nicht so einfach mehr ist, sich zu engagieren. Ich selbst würde mich sehr gerne politisch einbringen, möchte dies dann aber auch konsequent und über einen längeren Zeitraum tun. Doch durch die Organisation für mein Studium und ein damit verbundenes Auslandssemester, sowie die Entscheidung nach dem Bachelor wo es denn vllt für einen Master hingehen soll, ist es für mich schwierig in einem Verein oder einer Organisation aktiv zu werden. Dies liegt vor allem an der groben Planung meier Studiumszeit. Da bleibt erstens nicht viel Zeit, da man sich ja auf die Uni konzentrieren muss, die eigene Karriere nicht aus den Augen verlieren sollte und auch noch das „richtige“ Studnetenleben leben muss(!) und außerdem verweilt man auch nicht lange an einem Ort bzw. in einer Stadt, um meinen Ansprüchen entsprechend sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren.

    Dies könnte meiner Meinung ein Mitgrund sein, warum wir als U30-Jährige uns nicht gesellschaftlich engagieren wollen und somit unsere Chance, die „Rentnerrepublik“ mitzugestalten vertun.

    Diesen Gedanken einmal in die Runde geschmissen:)
    Des Weiteren bin ich sehr gespannt auf dein Buch und werde das TALK RADIO weiter verfolgen!

    Grüße
    Amelie

  10. Ich höre diese Talk- Reihe etwas durcheinander, gestern die Folge zum Eigentum vs Engagement, heute Chemnitz und eben diese hier. So lese ich auch ganz oft, lässt mich den Faden um den es geht immer wieder neu betrachten, mir hilfst!

    Zur Formatfrage Hörerkommentare: Ich bin gerade ganz entzückt und entspannt diesen Monolog von Stefan zu folgen. Der Sound hat eine Gleichmäßigkeit die mich mitdenken lässt obwohl ich dabei aufräume oder so. Großartig so!

    Zum anderen ist mir jetzt mal aufgefallen: Die meisten Kommentare von Hörern und innen kommen doch aus dem akademischen Bereich. Aber Abiturienten und Akademiker sind nur die eine Hälfte der Gesellschaft (mittlerweile, früher war das Verhältnis noch krasser, 30:70 oder so).Aber wo sind die Geschichten von Arbeitern und Angestellten, wo die der Auszubildenden die mit Hauptschule- oder Realschul- Abschluss mit 15/16/17 Jahren ins Leben treten, bei dieser ganzen Betrachtung. Genau, wir betrachten diese Menschen gerade, denn Chemnitz und Co. kommen eher aus diesen Milieus. Hedonistisch- Traditionelle mit Hang zum Konservativen. Ich frage mich immer warum diese Menschen, mit Ausnahmen, nicht solche Formate wie dieses hören. Schade. Also gut, ich bin mit 15 aus der Schule (1990) und sofort arbeiten gegangen. Jetzt, mit Anfang 40, hole ich mir mein Küchenakademisches Wissen so langsam nach. Weil etwas Ruhe ins Leben gekehrt ist. Vorher eher schwierig. Bedürfnisse der Selbsterhaltung stehen eben unterhalb von Selbstverwirklichung. Und ja, wären die ökonomischen Umstände besser, für viele, dann würde diese Gesellschaft ganz woanders stehen. Dieser Potentialverlust ist grob fahrlässig für die vielen Gesellschaften dieser Welt. Das ist unterlassene Hilfeleistung, das ist Beihilfe zum (Selbst-) Mord! Und Selbstmord ist ja nicht nur körperlich zu betrachten. Viele trauen sich überhaupt nicht und saufen sich lieber langsam zu Tode oder kombinieren ihren Selbstmord auf Raten noch mit anderen Drogen. Ich selbst bin seit 10 Jahren trockener Alkoholiker. Warum? Weil ich bis heute ein Opfer des vergangenen Krieges bin. Natürlich übernehme ich jetzt selbst die Verantwortung für mich und mein Handeln. Aber der Krieg und der Faschismus hat viele Monster hervorgebracht die immer noch ihre Wut in pure Gewalt gegenüber ihren Kindern, Frauen und Andersdenkenden ausleben. Alle die heute so um die 40 sind haben Eltern deren Eltern im Krieg waren! Das ist nicht weit weg, das war quasi gestern. Und diese, meine Eltern, das sind die aktuellen Rentner die seit 2-5 Jahren Rente beziehen. Ja, wenn die Babyboomer gestorben sind, dann wird Ruhe einkehren. Aber welche Auswüchse sich bis dahin in der Gesellschaft eingenistet haben ist für mich eher unbekannt.
    Sorry, ich wollte eigentlich gar nicht so viel schreiben. Aber, das ist eben sprechenendes Denken!
    Viele Grüße
    Timo aka frogger

  11. Da, wo du das Thema Freiheit behandelst, fehlt für mich eine qualitative Differenzierung verschiedener Freiheiten.
    Du sprichst vor allem von Wahlfreiheit bzw. von Möglichkeiten, aber nicht von Willensfreiheit. Natürlich ist das auch eine philosophische Frage, die vielleicht keinen Platz im Buch hat. Aber ich denke, ein wichtiges Problem der Jugend liegt in einem Konflikt zwischen den Möglichkeiten und der Fähigkeit einen Willen zu bilden.
    Diese Freiheit, sich einen Berufsweg auszusuchen, nicht in einer Struktur gefangen zu sein, ist das, was die Generation meiner Eltern (zumindest, wenn ich meine Stichprobe – also meine Eltern, deren Freunde, die Eltern von Freunden – betrachte) errungen bzw. zu erringen versucht hat. Was sie zumindest in der Mehrheit nicht haben, ist ein Bewusstsein dafür, wie schwer es ist, zunächs einen Willen zu bilden oder zu erkennen.
    Mein persönliches Beispiel: Mein Vater ist der Sohn eines selbstständigen Malermeisters. In seiner ganzen Jugend war klar, dass er später Malermeister wird, um den Betrieb zu übernehmen.
    Meine Mutter durfte in der DDR nicht studieren, weil sie durch Verbindungen zur Kirche nicht linientreu genug war. Sie ist in den 80ern mit meinen Großeltern in den Westen ausgereist, hat das Abitur nachgeholt, aber konnte mit ihrem Notendurchschnitt nicht studieren. Sie hat dann aus Sachzwängen eine Lehre angefangen, die sie nicht interessiert hat.
    Aus Sicht meiner Eltern ist mein großer Vorteil (und es ist wirklich ein Vorteil, dem will ich auf keinen Fall widersprechen), dass ich werden kann, was ich will. Ich habe also die Wahlfreiheit, und mit meinem 1er-Abi und dem guten Einkommen meiner Eltern kaum Einschränkungen.
    Hier eröffnet sich aber eine andere Unfreiheit. Die tatsächliche Entscheidung, was ich studiere oder welche Ausbildung ich mache, ist von verschiedenen Erwartungen beeinflusst. Die Erwartungen der Eltern, ihre verpassten Chancen nachzuholen und diese Möglichkeit nicht zu verschwenden. Die Erwartungen, die von der Gesellschaft herangetragen werden, mein Potential zu nutzen, etwas beizutragen, schnell ein funktionierender Teil der Arbeitswelt zu werden. Medien, Freunde, Lehrer etc., die alle bewusst oder unbewusst versuchen zu beeinflussen, wie ich (hier als Beispiel für viele meiner Generation), mich dann entscheide.
    Gleichzeitig ist der Entscheidungsmoment, in einer Lebensphase mit 17 / 18 / 19, in der gar nicht wirklich wusste, was ich machen möchte.
    Ich habe dann ein Studium angefangen und wieder abgebrochen und ein neues angefangen und erst während dieser Zeit ein Bewusstsein entwickelt dafür, was ich wirklich machen möchte, also die Fähigkeit diese Freiheit zu nutzen, einen eigenen (freien) Willen zu bilden, auch gegen diese Einflüsse von außen.
    Damit ist mein Freiheitskampf ein anderer als der vorhergegangener Generationen. Das kann, denke ich, als Teil einer Erklärung für zwei Phänomene gelten, die du thematisiert hast.

    1. Stress und Depressionen während des Studium, Rückzug aus Sozialleben, enge familiäre Bindung: viele Studierende, die ich kenne, sind sich gar nicht bewusst, was sie wollen, oder waren sich dessen nicht bewusst als sie angefangen haben zu studieren, können sich jetzt aber aus finanziellen Gründen nicht mehr umentscheiden. Die Belastung durch das Studium wird dadurch eine Belastung durch etwas, worin man keinen Sinn sieht, mit dem man unzufrieden ist. Wie beim Burnout (der Erschöpfungsdepression) ist dabei die Kombination aus Sinnlosigkeit und Belastung, der entscheidende Stress. Abgesehen davon, dass wir aus ganz anderen Gründen auch eine hohe Vulnerabilität haben, bspw. durch geringe elterliche Präsenz in der frühen Kindheit, und oft keine funktionierenden Coping-Mechanismen gelernt haben.

    2. Das Fehlen einer Jugendkultur: Der Konflikt den meine Eltern mit ihren Eltern und der Gesellschaft hatten, war der Kampf gegen Sachzwänge, Vorschriften, Familienbilder. Ein Kampf für Möglichkeiten, Wahlfreiheit. Die Konfliktlinie verlief zwischen Jugend auf der einen Seite und Eltern und Gesellschaft auf der anderen.
    Diesen Konflikt musste ich nie ausfechten. Die einzige an mich gestellte Erwartung ist, nach meinem Studium für mich selbst sorgen zu können. Meine Eltern geben mir ohne Kampf das, wofür sie gekämpft haben.
    Der Konflikt, den ich ausfechten muss, ist ein individueller, narzisstischer. Ich bin mein einziger Gegner. Die Konfliktlinie verläuft zwischen der Frage, was will ich, und was beeinflusst meine Entscheidung, wem will ich gefallen, wen will ich nicht enttäuschen. Diese Konflikt eignet sich nicht, um eine Jugendkultur zu begründen. So sind die heutigen Protestkulturen (LGBTQ, Feminismus) keine Jugendkulturen, weil die noch vorhandenen Unterdrückung gegen die protestiert wird, nicht jugendspezifisch sind.

    Interessant wäre jetzt noch, wie sich das in West- und Ostdeutschland unterscheidet und wie diese unterschiedlichen Freiheitskonflikte, die verschiedenen Generationen nachhaltig geprägt haben.

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